Enzyklika
Veritatis splendor
über einige grundlegende Fragen
der kirchlichen Morallehre
von Papst
Johannes Paul II.
an alle Bischöfe der
katholischen Kirche
über einige
grundlegende Fragen der kirchlichen Morallehre
6. August 1993
Herausgeber: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz Kaiserstraße
163, 53113 Bonn
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Jesus Christus, das wahre Licht, das jeden Menschen
erleuchtet (nn.
1-3) Gegenstand der vorliegenden Enzyklika (nn.
4-5)
Kapitel I
"Meister, was muß ich tun ...?" (Mt 19,16)
Christus und die Antwort auf die moralische Frage "Es kam ein
Mann zu Jesus ..." (Mt 19,16) (nn.
6-7) "Meister, was muß ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?" (Mt
19,16) (n.
8) "Nur einer ist ,der Gute'" (Mt 19,17) (nn.
9-11) "Wenn du aber das Leben erlangen willst, halte die Gebote" (Mt
19,17) (nn.
12-15) "Wenn du vollkommen sein willst" (Mt 19,21)
(nn.
16-18) "Komm und folge mir nach" (Mt 19,21)
(nn.
19-21) "Für Gott aber ist alles möglich" (Mt 19,26)
(nn.
22-24) "Seid gewiß: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt"
(Mt 28,20) (nn.
25-27)
Kapitel II
"Gleicht euch nicht der Denkweise dieser Welt an" (Röm 12,2) Die
Kirche und die Beurteilung einiger Tendenzen heutiger Moraltheologie
Verkünden, was der gesunden Lehre entspricht (vgl. Tit 2,1)
(nn.
28-30) "Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit
wird euch befreien" (Joh 8,32) (nn.
31-34)
I. Freiheit und Gesetz
"Doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen" (Gen
2,17) (nn.
35-37) Gott wollte den Menschen "der Macht der eigenen Entscheidung
überlassen" (Sir 15,14) (nn.
38-41) Wohl dem Mann, der Freude hat an der Weisung des Herrn (vgl. Ps
1,1-2) (nn.
42-45) "Die Forderung des Gesetzes ist ihnen ins Herz geschrieben"
(Röm 2,15) (nn.
46-50) "Am Anfang war das nicht so" (Mt 19,8)
(nn.
51-53)
II. Gewissen und Wahrheit
Das Heiligtum des Menschen (nn.
54-56) Das Gewissensurteil (nn.
57-61) Nach dem Wahren und Guten suchen (nn.
62-64)
III. Grundentscheidung und konkrete Verhaltensweisen
"Nur nehmt die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch, sondern dient
einander in Liebe!" (Gal 5,13) (nn.65-68)
Todsünde und läßliche Sünde (nn.
69-70)
IV. Die sittliche Handlung
Teleologie und Teleologismus (nn.
71-75) Der Gegenstand der freien menschlichen Handlung
(nn.
76-78) Das "in sich Schlechte": Man darf nicht Böses tun, damit Gutes
entsteht (cf. Röm 3,8) (nn.
79-83)
Kapitel III
"Damit das Kreuz Christi nicht um seine Kraft gebracht wird" (1 Kor 1,17)
Das sittlich Gute für das Leben der Kirche und der Welt "Zur
Freiheit hat uns Christus befreit" (Gal 5,1) (nn.
84-87) Im Licht wandeln (vgl. 1 Joh 1,7) (nn.
88-89) Das Martyrium, Verherrlichung der unverletzlichen Heiligkeit
des Gesetzes Gottes (nn.
90-94) Die allgemeinen und unveränderlichen sittlichen Normen im
Dienst der menschlichen Person und der Gesellschaft (nn.
95-97) Die Moral und die Erneuerung des gesellschaftlichen und
politischen Lebens (nn.
98-101) Gnade und Gehorsam gegenüber dem Gesetz Gottes
(nn.
102-105) Moral und Neuevangelisierung (nn.
106-108) Der Dienst der Moraltheologen (nn.
109-113) Unsere Verantwortlichkeit als Hirten
(nn.
114-117)
Schluß
Anmerkungen
Verehrte Mitbrüder im Bischofsamt! Gruß und Apostolischen Segen!
Der Glanz der Wahrheit erstrahlt in den Werken des Schöpfers und in
besonderer Weise in dem nach dem Abbild und Gleichnis Gottes geschaffenen
Menschen (vgl. Gen 1,26): die Wahrheit erleuchtet den Verstand und formt die
Freiheit des Menschen, der auf diese Weise angeleitet wird, den Herrn zu
erkennen und zu lieben. Darum betet der Psalmist: "Herr, laß dein Angesicht über
uns leuchten!" (Ps 4,7).
Einleitung
Jesus Christus, das wahre Licht, das jeden Menschen
erleuchtet
1. Durch den Glauben an Jesus Christus, "das wahre Licht,
das jeden Menschen erleuchtet" (Joh 1,9), zum Heil berufen, werden die Menschen
"Licht durch den Herrn" und "Kinder des Lichts" (Eph 5,8) und heiligen sich
durch den "Gehorsam gegenüber der Wahrheit" (1 Petr 1,22).
Dieser Gehorsam ist nicht immer leicht. In der Folge der geheimnisvollen
Ursünde, begangen auf Anstiftung Satans, der "ein Lügner und der Vater der Lüge
ist" (Joh 8,44), ist der Mensch immerfort versucht, seinen Blick vom lebendigen
und wahren Gott ab- und den Götzen zuzuwenden (vgl. 1 Thess 1,9), während er
"die Wahrheit Gottes mit der Lüge" vertauscht (Röm 1,25); damit wird auch seine
Fähigkeit, die Wahrheit zu erkennen, beeinträchtigt und sein Wille, sich ihr zu
unterwerfen, geschwächt. Und so geht er, während er sich dem Relativismus und
Skeptizismus überläßt (vgl. Joh 18,38), auf die Suche nach einer trügerischen
Freiheit außerhalb dieser Wahrheit.
Aber keine Finsternis des Irrtums und der Sünde vermag das Licht des
Schöpfergottes im Menschen völlig auszulöschen. In der Tiefe seines Herzens
besteht immer weiter die Sehnsucht nach der absoluten Wahrheit und das
Verlangen, in den Vollbesitz ihrer Erkenntnis zu gelangen. Davon gibt das
unermüdliche menschliche Suchen und Forschen auf jedem Gebiet ein beredtes
Zeugnis. Das beweist noch mehr die Suche nach dem Sinn des Lebens. Die
Entwicklung von Wissenschaft und Technik ist zwar ein großartiges Zeugnis der
Fähigkeit des Verstandes und der Ausdauer der Menschen, befreit aber die
Menschheit nicht davon, sich letzte religiöse Fragen zu stellen, sie spornt sie
vielmehr dazu an, die schmerzlichsten und entscheidendsten Kämpfe, jene im
Herzen und im Gewissen, auszutragen.
2. Jeder Mensch muß sich den grundlegenden Fragen stellen :
Was soll ich tun? Wie ist das Gute vom Bösen zu unterscheiden? Die Antwort ist,
wie der Psalmist bezeugt, nur möglich dank des Glanzes der Wahrheit, die im
Innersten des menschlichen Geistes erstrahlt: "Viele sagen: ,Wer macht uns das
Gute sehen?' Herr, laß dein Angesicht über uns leuchten!" (Ps 4,7).
Gott läßt sein Angesicht in seiner ganzen Schönheit leuchten über dem
Angesicht Jesu Christi, "Ebenbild des unsichtbaren Gottes" (Kol 1,15), Äbglanz
seiner Herrlichkeit" (Hebr 1,3), "voll Gnade und Wahrheit" (Joh 1,14): Er ist
"der Weg, die Wahrheit und das Leben" (Joh 14,6). Darum wird die entscheidende
Antwort auf jede Frage des Menschen, insbesondere auf seine religiösen und
moralischen Fragen, von Jesus Christus gegeben, ja ist Jesus Christus selbst die
Antwort, wie das II. Vatikanische Konzil in Erinnerung bringt: "Tatsächlich
klärt sich nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis des
Menschen wahrhaft auf. Denn Adam, der erste Mensch, war das Vorausbild des
zukünftigen, nämlich Christi des Herrn. Christus, der neue Adam, macht eben in
der Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe dem Menschen den
Menschen selbst voll kund und erschließt ihm seine höchste Berufung".1
Jesus Christus, "das Licht der Völker", erleuchtet das Angesicht seiner
Kirche, die er in die ganze Welt aussendet, allen Geschöpfen das Evangelium zu
verkünden (vgl. Mk 12,15).2
So bietet die Kirche, Volk Gottes inmitten der Nationen,3
während sie die neuen Herausforderungen der Geschichte und die Bemühungen
berücksichtigt, die die Menschen bei der Suche nach dem Sinn des Lebens
unternehmen, allen die Antwort an, die aus der Wahrheit Jesu Christi und seines
Evangeliums herrührt. In der Kirche ist immer das Bewußtsein lebendig, daß ihr
"allzeit die Pflicht (obliegt), nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im
Licht des Evangeliums zu deuten. So kann sie dann in einer jeweils einer
Generation angemessenen Weise auf die bleibenden Fragen der Menschen nach dem
Sinn des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens und nach dem Verhältnis beider
zueinander Antwort geben".4
3. In diesem Bemühen sind die Bischöfe der Kirche in
Gemeinschaft mit dem Nachfolger Petri den Gläubigen nahe, sie begleiten und
lenken sie mit ihrem Lehramt, wobei sie immer neue Akzente für Liebe und
Barmherzigkeit finden, um sich nicht nur an die Gläubigen, sondern an alle
Menschen guten Willens zu wenden. Das II. Vatikanische Konzil bleibt ein
hervorragendes Zeugnis für diese Haltung der Kirche, die sich, "erfahren in den
Fragen, die den Menschen betreffen",5
in den Dienst jedes Menschen und des ganzen Menschen stellt.6
Die Kirche weiß, daß der moralische Anspruch jeden Menschen im Innersten
erreicht, daß er alle miteinbezieht, auch jene, die Christus und sein Evangelium
nicht kennen und nicht einmal etwas von Gott wissen. Sie weiß, daß eben auf dem
Weg des sittlichen Lebens allen der Weg zum Heil offensteht, woran das II.
Vatikanische Konzil mit aller Klarheit erinnert, wenn es schreibt: "Wer nämlich
das Evangelium Christi und seine Kirche ohne Schuld nicht kennt, Gott aber aus
ehrlichem Herzen sucht, seinen im Anruf des Gewissens erkannten Willen unter dem
Einfluß der Gnade in der Tat zu erfüllen trachtet, kann das ewige Heil
erlangen" . Und es fügt hinzu: "Die göttliche Vorsehung verweigert auch denen
das zum Heil Notwendige nicht, die ohne Schuld noch nicht zur ausdrücklichen
Anerkennung Gottes gekommen sind, jedoch, nicht ohne die göttliche Gnade, ein
rechtes Leben zu führen sich bemühen. Was sich nämlich an Gutem und Wahrem bei
ihnen findet, wird von der Kirche als Vorbereitung für die Frohbotschaft und als
Gabe dessen geschätzt, der jeden Menschen erleuchtet, damit er schließlich das
Leben habe".7
Gegenstand der vorliegenden Enzyklika
4. Seit jeher, aber vor allem im Lauf der beiden letzten
Jahrhunderte haben die Päpste sowohl persönlich wie gemeinsam mit dem
Bischofskollegium eine Sittenlehre entwickelt und vorgelegt, die die
vielfältigen und verschiedenen Bereiche des menschlichen Lebens berücksichtigt.
Im Namen und mit der Autorität Jesu Christi haben sie ermahnt, verkündet,
erklärt; in Treue zu ihrer Sendung, im Ringen für den Menschen haben sie
bestärkt, aufgerichtet und getröstet; mit der Garantie des Beistands des Geistes
der Wahrheit haben sie zu einem besseren Verständnis der sittlichen Ansprüche im
Bereich der menschlichen Sexualität, der Familie, des sozialen, wirtschaftlichen
und politischen Lebens beigetragen. Ihre Lehre stellt sowohl innerhalb der
Überlieferung der Kirche wie der Menschheitsgeschichte eine ständige Vertiefung
der sittlichen Erkenntnis dar.8
Doch heute erscheint es notwendig, über die Morallehre der Kirche insgesamt
nachzudenken, mit der klaren Zielsetzung, einige fundamentale Wahrheiten der
katholischen Lehre in Erinnerung zu rufen, die im heutigen Kontext Gefahr
laufen, verfälscht oder verneint zu werden. Es ist nämlich eine neue Situation
gerade innerhalb der christlichen Gemeinschaft entstanden, die hinsichtlich der
sittlichen Lehren der Kirche die Verbreitung vielfältiger Zweifel und Einwände
menschlicher und psychologischer, sozialer und kultureller, religiöser und auch
im eigentlichen Sinne theologischer Art erfahren hat. Es handelt sich nicht mehr
um begrenzte und gelegentliche Einwände, sondern um eine globale und
systematische Infragestellung der sittlichen Lehrüberlieferung aufgrund
bestimmter anthropologischer und ethischer Auffassungen. Diese haben ihre Wurzel
in dem mehr oder weniger verborgenen Einfluß von Denkströmungen, die schließlich
die menschliche Freiheit der Verwurzelung in dem ihr wesentlichen und für sie
bestimmenden Bezug zur Wahrheit beraubt. So wird die herkömmliche Lehre über das
Naturgesetz, über die Universalität und bleibende Gültigkeit seiner Gebote
abgelehnt; Teile der kirchlichen Moralverkündigung werden für schlechthin
unannehmbar gehalten; man ist der Meinung, das Lehramt dürfe sich in
Moralfragen nur einmischen, um die "Gewissen zu ermahnen" und "Werte
vorzulegen", nach denen dann ein jeder autonom die Entscheidungen und
Entschlüsse seines Lebens inspirieren wird.
Hervorgehoben werden muß im besonderen die Diskrepanz zwischen der
herkömmlichen Antwort der Kirche und einigen, auch in den Priesterseminaren und
an den theologischen Fakultäten verbreiteten theologischen Einstellungen zu
Fragen, die für die Kirche und für das Glaubensleben der Christen, ja für das
menschliche Zusammenleben überhaupt, von allergrößter Bedeutung sind. Hier wird
insbesondere gefragt: Besitzen die Gebote Gottes, die dem Menschen ins Herz
geschrieben sind und Bestandteil des Bundes Gottes mit ihm sind, tatsächlich die
Fähigkeit, die täglichen Entscheidungen der einzelnen Menschen und der gesamten
Gesellschaft zu erleuchten? Ist es möglich, Gott zu gehorchen und damit Gott und
den Nächsten zu lieben, ohne diese Gebote unter allen Umständen zu respektieren?
Verbreitet ist auch der Zweifel am engen und untrennbaren Zusammenhang zwischen
Glaube und Moral, so als würde sich die Zugehörigkeit zur Kirche und deren
innere Einheit allein durch den Glauben entscheiden, während man in Sachen Moral
einen Pluralismus von Anschauungen und Verhaltensweisen dulden könnte, je nach
Urteil des individuellen subjektiven Gewissens bzw. der Verschiedenheit der
sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen.
5. In einem derartigen noch immer aktuellen Kontext ist in
mir der Entschluß gereift, eine Enzyklika zu schreiben, die - wie ich in dem am
1. August 1987 aus Anlaß des 200. Todestages des hl. Alfonso Maria von Liguori
veröffentlichten Apostolischen Schreiben Spiritus Domini angekündigt habe -
"umfassender und gründlicher die Fragen, die die eigentlichen Grundlagen der
Moraltheologie betreffen", 9
behandeln soll, Grundlagen, die durch einige Richtungen der heutigen
Moraltheologie angegriffen werden.
Ich wende mich an euch, ehrwürdige Brüder im Bischofsamt, die ihr mit mir die
Verantwortung teilt, die "gesunde Lehre" (2 Tim 4,3) zu bewahren, mit der
Absicht, einige Aspekte der Lehre zu präzisieren, die entscheidend sind, um dem
zu begegnen, was man wohl ohne Zweifel eine echte Krise nennen muß, so ernst
sind die Schwierigkeiten, die daraus für das moralische Leben der Gläubigen und
für die Gemeinschaft in der Kirche wie auch für ein gerechtes und solidarisches
soziales Leben folgen.
Wenn diese seit langem erwartete Enzyklika erst jetzt veröffentlicht wird,
dann auch deshalb, weil es angebracht erschien, ihr den Katechismus der
katholischen Kirche vorausgehen zu lassen, der eine vollständige und
systematische Darlegung der christlichen Morallehre enthält. Der Katechismus
stellt das sittliche Leben der Gläubigen in seinen Grundlagen und in seinen
vielfältigen Inhalten als Leben der "Kinder Gottes" vor: "Im Glauben ihrer neuen
Würde bewußt, sollen die Christen fortan so leben, ,wie es dem Evangelium
Christi entspricht' (Phil 1,27). Sie werden dazu befähigt durch die Gnade
Christi und die Gabe seines Geistes, die sie durch die Sakramente und das Gebet
erhalten".10 Indem sie
auf den Katechismus äls sicheren und maßgebenden Text für die Unterweisung in
der katholischen Lehre"11
verweist, wird sich die Enzyklika darauf beschränken, sich mit einigen
grundlegenden Fragen der Morallehre der Kirche auseinanderzusetzen, und dies in
Form einer notwendigen Klärung von Problemen, die unter den Ethikern und
Moraltheologen umstritten sind. Das ist das spezifische Thema der vorliegenden
Enzyklika, der es darum geht, hinsichtlich der erläuterten Probleme die
Erfordernisse einer auf die Heilige Schrift und die lebendige apostolische
Überlieferung gegründeten Morallehre darzulegen 12
und zugleich die Voraussetzungen und Folgen der Entgegnungen aufzuzeigen, die
sich gegen diese Lehre richteten.
Kapitel I
"Meister, was muß ich Gutes tun ...?" (Mt 19,16)
Christus und die Antwort auf die moralische Frage
"Es kam ein Mann zu Jesus ..." (Mt 19,16)
6. Das Gespräch Jesu mit dem reichen Jüngling, das im 19.
Kapitel des Evangeliums des hl. Matthäus wiedergegeben wird, kann uns eine
nützliche Spur sein, um seine Morallehre in lebendiger, eindringlicher Weise neu
zu hören: "Es kam ein Mann zu Jesus und fragte: Meister, was muß ich Gutes tun,
um das ewige Leben zu gewinnen? Er antwortete: Was fragst du mich nach dem
Guten? Nur einer ist ,der Gute'. Wenn du aber das Leben erlangen willst, halte
die Gebote! Darauf fragte er ihn: Welche? Jesus antwortete: Du sollst nicht
töten, du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht
falsch aussagen; ehre Vater und Mutter! Und: Du sollst deinen Nächsten lieben
wie dich selbst! Der junge Mann erwiderte ihm: Alle diese Gebote habe ich
befolgt. Was fehlt mir jetzt noch? Jesus antwortete ihm: Wenn du vollkommen
sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen; so wirst du
einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach" (Mt
19,16-21).13
7. "Es kam ein Mann zu Jesus ...". In dem jungen Mann,
dessen Namen das Matthäusevangelium nicht nennt, können wir jeden Menschen
erkennen, der, bewußt oder unbewußt, an Christus, den Erlöser des Menschen,
herantritt und ihm die moralische Frage stellt. Für den jungen Mann ist es nicht
zuerst eine Frage nach den Regeln, die befolgt werden müssen, als vielmehr eine
Frage nach Sinnerfüllung für das Leben. Und in der Tat liegt dem Menschen bei
jeder Entscheidung und jeder Handlung dieses Verlangen am Herzen; es ist die
stille Suche und der innere Anstoß, der die Freiheit in Bewegung setzt. Diese
Frage ist letzten Endes ein Appell an das absolute Gute, das uns anzieht und
uns zu sich ruft, sie ist der Widerhall einer Berufung durch Gott, Ursprung und
Ziel des Lebens des Menschen. Genau aus dieser Sicht hat das II. Vatikanische
Konzil dazu aufgefordert, die Moraltheologie so zu vervollkommnen, daß sie die
Erhabenheit der Berufung, die die Gläubigen in Christus empfangen haben,14
als die einzige Antwort darlegt, die die Sehnsucht des Menschenherzens voll
stillt.
Damit die Menschen diese "Begegnung" mit Christus verwirklichen können, hat
Gott seine Kirche gewollt. In der Tat, "diesem Ziel allein möchte die Kirche
dienen: jeder Mensch soll Christus finden können, damit Christus jeden einzelnen
auf seinem Lebensweg begleiten kann".15
"Meister, was muß ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen?"
(Mt 19,16)
8. Aus der Tiefe des Herzens kommt die Frage, die der reiche
Jüngling an Jesus von Nazaret richtet, eine Frage, die für das Leben jedes
Menschen wesentlich und unausweichlich ist: denn sie betrifft das im eigenen Tun
zu vollbringende sittlich Gute und das ewige Leben. Der Gesprächspartner Jesu
ahnt, daß ein Zusammenhang zwischen dem sittlich Guten und der vollen Erfüllung
der eigenen Bestimmung besteht. Er ist ein frommer Jude, der sozusagen im
Schatten des Gesetzes des Herrn aufgewachsen ist. Wenn er Jesus diese Frage
stellt, dürfen wir annehmen, daß er das nicht deshalb tut, weil er die im Gesetz
enthaltene Antwort nicht kennt. Wahrscheinlicher ist, daß die Ausstrahlung der
Person Jesu in ihm neue Fragen bezüglich des sittlich Guten aufbrechen ließ. Er
spürt das Bedürfnis, dem zu begegnen, der seine Predigttätigkeit mit dieser
neuen, entscheidenden Ankündigung begonnen hatte: "Die Zeit ist erfüllt, das
Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!" (Mk 1,15).
Der Mensch von heute muß sich aufs neue an Christus wenden, um von ihm die
Antwort darauf zu erhalten, was gut und was schlecht ist. Er ist der Meister,
der Auferstandene, der das Leben in sich hat und der in seiner Kirche und in der
Welt immer gegenwärtig ist. Er erschließt den Gläubigen das Buch der Schrift und
lehrt durch die volle Offenbarung des Willens des Vaters die Wahrheit über das
sittliche Handeln. Am Ursprung und am Höhepunkt des Heilsplanes, des Alphas und
Omegas der menschlichen Geschichte (vgl. Offb 1,8; 21,6; 22,13), enthüllt
Christus die Lage des Menschen und seine volle Berufung. Darum muß sich "der
Mensch, der sich selbst bis in die Tiefe verstehen will - nicht nur nach
unmittelbar zugänglichen, partiellen, oft oberflächlichen und sogar nur
scheinbaren Kriterien und Maßstäben des eigenen Seins -, mit seiner Unruhe,
Unsicherheit und auch mit seiner Schwäche und Sündigkeit, mit seinem Leben und
Tod Christus nahen. Er muß sozusagen mit seinem ganzen Selbst in ihn eintreten,
muß sich die ganze Wirklichkeit der Menschwerdung und der Erlösung ,aneignen'
und assimilieren, um sich selbst zu finden. Wenn sich in ihm dieser
tiefgreifende Prozeß vollzieht, wird er nicht nur zur Anbetung Gottes veranlaßt,
sondern gerät auch in tiefes Staunen über sich selbst".16
Wenn wir also in das Innerste der Moral des Evangeliums vordringen und ihren
tiefen und unwandelbaren Inhalt erfassen wollen, müssen wir sorgfältig den Sinn
der von dem reichen Jüngling des Evangeliums gestellten Frage und mehr noch den
Sinn der Antwort Jesu erforschen, indem wir uns von ihm leiten lassen. Jesus
antwortet nämlich mit pädagogischer Einfühlung und Behutsamkeit, indem er den
jungen Mann gleichsam an der Hand nimmt und Schritt für Schritt zur Wahrheit
hinführt.
"Nur einer ist ,der Gute'" (Mt 19,17)
9. Jesus sagt : "Was fragst du mich nach dem Guten? Nur
einer ist ,der Gute'. Wenn du aber das Leben erlangen willst, halte die Gebote!"
(Mt 19,17). In der Fassung der Evangelisten Markus und Lukas lautet die Frage
so: "Warum nennst du mich gut? Niemand ist gut außer Gott, dem Einen" (Mk 10,18;
vgl. Lk 18,19).
Bevor Jesus auf die Frage antwortet, möchte er, daß der junge Mann sich
selbst über das Motiv seiner Frage klar wird. Der "gute Meister" weist seinen
Gesprächspartner - und uns alle - darauf hin, daß die Antwort auf die Frage:
"Was muß ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen?", nur dadurch gefunden
werden kann, daß sich Verstand und Herz dem zuwenden, der "allein der Gute" ist:
"Niemand ist gut außer Gott, dem Einen" (Mk 10,18; vgl. Lk 18,19). Nur Gott kann
auf die Frage nach dem Guten antworten, weil er das Gute ist.
In der Tat bedeutet, sich nach dem Guten zu fragen, letzten Endes, sich Gott,
der Fülle des Guten, zuzuwenden. Jesus zeigt, daß die Frage des jungen Mannes in
der Tat eine religiöse Frage ist und daß das Gute, das den Menschen anzieht und
zugleich verpflichtet, seine Quelle in Gott hat, ja Gott selber ist. Er, der
allein würdig ist, "mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit allen Gedanken"
(Mt 22,37) geliebt zu werden. Jesus führt die Frage nach dem sittlich guten Tun
zurück auf ihre religiösen Wurzeln, auf die Anerkennung Gottes, des einzig
Guten, Fülle des Lebens, Endziel des menschlichen Handelns, vollkommene
Glückseligkeit.
10. Die von den Worten des Meisters unterwiesene Kirche
glaubt, daß der Mensch, der nach dem Abbild des Schöpfers geschaffen, mit dem
Blut Christi erlöst und von der Gegenwart des Heiligen Geistes geheiligt wurde,
als Endziel seines Lebens das Sein "zum Lob der Herrlichkeit" Gottes hat (vgl.
Eph 1,12), indem er bewirkt, daß jede seiner Handlungen dessen Herrlichkeit
widerspiegelt. "Erkenne dich also selbst, o schöne Seele: du bist das Abbild
Gottes - schreibt der hl. Ambrosius. Erkenne dich selbst, o Mensch: du bist der
Abglanz Gottes (1 Kor 11,7). Höre, in welcher Weise du sein Abglanz bist. Der
Prophet sagt: Zu wunderbar ist für mich dieses Wissen, zu hoch, ich kann es
nicht begreifen (Ps 139,6), das heißt: in meinem Tun ist deine Majestät am
wunderbarsten, deine Weisheit wird im Verstand des Menschen gepriesen. Während
ich, den du in den geheimsten Gedanken und tiefsten Gefühlen durchschaust, mich
selbst betrachte, erkenne ich die Geheimnisse deines Wissens. Erkenne dich also
selbst, o Mensch, erkenne, wie groß du bist, und wache über dich ...".17
Was der Mensch ist und tun soll, wird offenkundig im Augenblick der
Selbstoffenbarung Gottes. Die Zehn Gebote gründen sich in der Tat auf die
Worte: "Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten herausgeführt hat, aus
dem Sklavenhaus. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben" (Ex 20,2-3).
"In den zehn Weisungen" des Bundes mit Israel und im ganzen Gesetz gibt sich
Gott als der zu erkennen, der "allein gut ist"; als der, der trotz der Sünde des
Menschen weiterhin das "Modell" des sittlichen Handelns bleibt, seiner eigenen
Aufforderung entsprechend: "Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin
heilig" (Lev 19,2); als der, der seiner Liebe zum Menschen getreu, ihm sein
Gesetz schenkt (vgl. Ex 19,9-24 und 20,18-21), um die ursprüngliche Harmonie mit
dem Schöpfer und mit der ganzen Schöpfung wiederherzustellen, und noch mehr, um
ihn in seine Liebe einzuführen: "Ich gehe in eurer Mitte; ich bin euer Gott,
und ihr seid mein Volk" (Lev 26,12).
Das sittliche Leben erscheint als geschuldete Antwort auf die freien
Initiativen, die Gottes Liebe dem Menschen unbegrenzt zuteil werden läßt. Es
ist nach der Aussage, die das Buch Deuteronomium über das grundlegende Gebot
macht, eine Antwort der Liebe: "Höre Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist
einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit
ganzer Seele und mit ganzer Kraft. Diese Worte, auf die ich dich heute
verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen. Du sollst sie deinen
Söhnen wiederholen" (Dtn 6,4-7).
So ist das in die unverdiente Liebe Gottes eingebettete sittliche Leben dazu
berufen, Gottes Herrlichkeit widerzuspiegeln: "Für den, der Gott liebt, genügt
es, dem zu gefallen, den er liebt: er braucht nach keinem anderen, größeren
Entgelt für diese Liebe zu suchen; denn die Liebe stammt so von Gott, daß Gott
selbst Liebe ist".18
11. Die Feststellung, daß "nur einer gut ist", verweist uns
also auf die "erste Tafel" der Gebote, die dazu aufruft, Gott als den einzigen
Herrn und den Absoluten anzuerkennen und aufgrund seiner unergründlichen
Heiligkeit nur ihn zu verehren (vgl. Ex 20,2-11). Das Gute besteht darin, Gott
zu gehören, ihm zu gehorchen, demütig mit ihm unseren Weg zu gehen,
Gerechtigkeit zu üben und die Güte zu lieben (vgl. Mich 6,8). Den Herrn als Gott
anzuerkennen, ist der fundamentale Kern, das Herzstück des Gesetzes, von dem
sich die einzelnen Gebote herleiten und dem sie untergeordnet sind. Durch die
Moral der Gebote wird die Zugehörigkeit des Volkes Israel zum Herrn offenkundig,
denn Gott allein ist derjenige, der gut ist. Das ist das Zeugnis der Heiligen
Schrift, die auf jeder ihrer Seiten von der Wahrnehmung der absoluten Heiligkeit
Gottes durchdrungen ist:
"Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Heere"
(Jes 6,3).
Aber wenn nur Gott das Gute ist, gelingt es keiner menschlichen Anstrengung,
auch nicht der strengsten Einhaltung der Gebote, das Gesetz "zu erfüllen", das
heißt den Herrn als Gott anzuerkennen und ihm die nur ihm allein gebührende
Verehrung zu erweisen (vgl. Mt 4,10). Die "Erfüllung" kann nur von einem
Geschenk Gottes herkommen: es ist das Angebot einer Teilhabe am göttlichen
Gutsein, das sich in Jesus offenbart und mitteilt, ihm, den der reiche Jüngling
mit den Worten "guter Meister" anredet (vgl. Mk 10,17; Lk 18,18). Was der junge
Mann jetzt vielleicht nur zu ahnen vermag, wird schließlich von Jesus selbst
voll enthüllt werden in seiner Aufforderung: "Komm und folge mir nach!" (Mt
19,21).
"Wenn du aber das Leben erlangen willst, halte die Gebote"
(Mt 19,17)
12. Nur Gott vermag auf die Frage nach dem Guten zu
antworten, weil er das Gute ist. Aber Gott hat bereits auf diese Frage
geantwortet: Er hat das dadurch getan, daß er den Menschen geschaffen und mit
Weisheit und Liebe durch das ihm ins Herz geschriebene Gesetz (vgl. Röm 2,15),
das "natürliche Gesetz", auf sein Ziel hingeordnet hat. Dieses natürliche Gesetz
ist "nichts anderes als das von Gott uns eingegebene Licht des Verstandes. Dank
seiner wissen wir, was man tun und was man meiden soll. Dieses Licht und dieses
Gesetz hat Gott uns bei der Erschaffung geschenkt".19
Er hat es dann in der Geschichte Israels im besonderen mit den "zehn Worten",
das heißt mit den Geboten vom Sinai, getan, durch die Gott die Existenz des
Bundesvolkes begründet (vgl. Ex 24) und es dazu berufen hat, ünter allen Völkern
sein besonderes Eigentum", "ein heiliges Volk" zu sein (vgl. Ex 19,5-6), das
seine Heiligkeit unter allen Völkern erstrahlen lassen möge (vgl. Weish 18,4; Ez
20,41). Das Geschenk der Zehn Gebote ist Verheißung und Zeichen des Neuen
Bundes, wenn das Gesetz wiederum und endgültig in das Herz des Menschen
hineingeschrieben werden wird (vgl. Jer 31,31-34) und an die Stelle des Gesetzes
der Sünde tritt, die dieses Herz entstellt hatte (vgl. Jer 17,1). Dann wird ihm
"ein neues Herz" geschenkt, denn in ihm wird "ein neuer Geist", der Geist
Gottes, wohnen (vgl. Ez 36,24-28). 20
Nach der bedeutsamen Präzisierung: "Nur einer ist ,der Gute'" antwortet Jesus
daher dem jungen Mann: "Wenn du aber das Leben erlangen willst, halte die
Gebote" (Mt 19,17). Damit wird ein enger Zusammenhang zwischen dem ewigen Leben
und der Befolgung der Gebote Gottes hergestellt: die Gebote Gottes weisen dem
Menschen den Weg des Lebens und geleiten ihn zu ihm. Aus dem Mund Jesu, des
neuen Mose, werden den Menschen die Gebote des Dekalogs wiedergeschenkt; er
selbst bestätigt sie endgültig und stellt sie uns als Weg und Bedingung des
Heils vor. Das Gebot verbindet sich mit einer Verheißung: im Alten Bund war
Gegenstand der Verheißung der Besitz eines Landes, in dem das Volk ein Dasein in
Freiheit und Gerechtigkeit führen können sollte (vgl. Dtn 6,20-25); im Neuen
Bund ist Gegenstand der Verheißung das "Himmelreich", wie Jesus zu Beginn der
Bergpredigt - der Rede, die die umfassendste und vollständigste Darlegung des
Neuen Gesetzes enthält (vgl. Mt 5-7) - in offenkundiger Bezugnahme auf die Mose
von Gott am Berg Sinai übergebenen Zehn Gebote sagt. Auf dieselbe Wirklichkeit
des Himmelreiches bezieht sich der Ausdruck "ewiges Leben", das Teilnahme am
Leben Gottes selbst ist: es findet seine vollkommene Verwirklichung erst nach
dem Tod, ist aber im Glauben schon jetzt Licht der Wahrheit, Sinnquelle für das
Leben, beginnende Teilhabe an einer Fülle in der Nachfolge Christi. Jesus sagt
nämlich nach der Begegnung mit dem reichen Jüngling zu den Jüngern: Ünd jeder,
der um meines Namens willen Häuser oder Brüder, Schwestern, Vater, Mutter,
Kinder oder Äcker verlassen hat, wird dafür das Hundertfache erhalten und das
ewige Leben gewinnen" (Mt 19,29).
13. Die Antwort Jesu genügt dem jungen Mann nicht, und er
fragt den Meister weiter nach den Geboten, die befolgt werden sollen: "Darauf
fragte er ihn: Welche?" (Mt 19,18). Er fragt, was er im Leben tun müsse, um die
Anerkennung der Heiligkeit Gottes kundzutun. Nachdem Jesus den Blick des jungen
Mannes auf Gott hingelenkt hat, erinnert er ihn an die Gebote des Dekalogs, die
sich auf den Nächsten beziehen: "Jesus antwortete: Du sollst nicht töten, du
sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsch
aussagen, ehre Vater und Mutter! Und: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich
selbst" (Mt 19,18-19).
Aus dem Gesprächszusammenhang, und insbesondere aus dem Vergleich des Textes
bei Matthäus mit den Parallelstellen bei Markus und Lukas, ergibt sich, daß
Jesus nicht daran denkt, alle Gebote, die notwendig sind, um "das Leben zu
erlangen", einzeln aufzuzählen, sondern daß es ihm vielmehr darum geht, den
jungen Mann hinzuweisen auf die "zentrale Stellung" der Zehn Gebote allen
anderen Geboten gegenüber als Deutung dessen, was für den Menschen "Ich bin der
Herr, dein Gott" bedeutet. Es kann unserer Aufmerksamkeit also nicht entgehen,
an welche Gebote des Gesetzes der Herr den jungen Mann erinnert: es sind einige
Gebote, die zur sogenannten "zweiten Tafel" des Dekalogs gehören, deren
Zusammenfassung (vgl. Röm 13,8-10) und Fundament das Gebot der Nächstenliebe
ist: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" (Mt 19,19; vgl. Mk 12,31). In
diesem Gebot kommt sehr klar die einzigartige Würde der menschlichen Person zum
Ausdruck, die "das einzige Geschöpf ist, das Gott um seiner selbst willen
gewollt hat".21 Die
verschiedenen Gebote des Dekalogs spiegeln in der Tat nur das einzige auf das
Wohl der Person hingeordnete Gebot auf der Ebene der vielfältigen Güter wider,
die die Identität der menschlichen Person als geistiges und leibliches Wesen in
Beziehung zu Gott, zum Nächsten und zur Welt der Dinge kennzeichnen. Wie wir im
Katechismus der katholischen Kirche lesen, "sind die Zehn Gebote Teil der
Offenbarung Gottes. Zugleich lehren sie uns die wahre Natur des Menschen. Sie
heben seine wesentlichen Pflichten hervor und damit indirekt auch die
Grundrechte, die der Natur der menschlichen Person innewohnen." 22
Die Gebote, an die Jesus seinen jungen Gesprächspartner erinnert, sind dazu
bestimmt, das Wohl der Person, Ebenbild Gottes, durch den Schutz seiner Güter zu
wahren. "Du sollst nicht töten, du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht
stehlen, du sollst nicht falsch aussagen", sind sittliche Regeln, die als
Verbote formuliert sind. Die negativen Vorschriften bringen besonders kraftvoll
die ununterdrückbare Forderung zum Ausdruck, das menschliche Leben, die
Personengemeinschaft in der Ehe, das Privateigentum, die Wahrhaftigkeit und den
guten Ruf zu schützen.
Die Gebote stellen also die Grundvoraussetzung für die Nächstenliebe dar;
zugleich dienen sie ihrer Überprüfung. Sie sind die erste notwendige Etappe auf
dem Weg zur Freiheit, ihr Anfang: "Die erste Freiheit - schreibt der hl.
Augustinus - besteht im Freisein von schuldhaftem Versagen: das wären z.B. Mord,
Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, Betrug, Gotteslästerung usw. Wenn einer beginnt,
nichts mit diesen Untaten zu tun zu haben (und kein Christ darf etwas mit ihnen
zu tun haben), beginnt er, das Haupt zur Freiheit hin zu erheben, doch das ist
erst der Anfang der Freiheit, nicht die vollkommene Freiheit ...".23
14. Das heißt selbstverständlich nicht, daß Jesus der
Nächstenliebe Vorrang einräumen oder sie gar von der Gottesliebe trennen möchte.
Das Gegenteil ist der Fall, wie sein Gespräch mit dem Gesetzeslehrer beweist:
als dieser ihm eine ganz ähnliche Frage wie der reiche Jüngling stellt, sieht er
sich von Jesus auf die beiden Gebote der Gottesliebe und der Nächstenliebe
verwiesen (vgl. Lk 10,25-27) und dazu aufgefordert, sich zu erinnern, daß nur
ihre Befolgung zum ewigen Leben führen kann: "Handle danach, und du wirst leben"
(Lk 10,28). Bezeichnend ist allerdings, daß gerade das zweite dieser Gebote die
Neugier und die Frage des Gesetzeslehrers auslöst: Ünd wer ist mein Nächster?"
(Lk 10,29). Der Meister antwortet mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter,
dem Schlüsselgleichnis für das volle Verständnis des Gebotes der Nächstenliebe
(vgl. Lk 10,30-37).
Die beiden Gebote, an denen "das ganze Gesetz hängt samt den Propheten" (Mt
22,40), sind zutiefst miteinander verbunden und durchdringen sich gegenseitig.
Ihre unauflösliche Einheit wird von Christus mit den Worten und mit dem Leben
bezeugt: seine Sendung erreicht ihren Höhepunkt in dem Kreuz, das die Erlösung
bringt (vgl. Joh 3,14-15), Zeichen seiner unteilbaren Liebe zum Vater und zur
Menschheit (vgl. Joh 13,1).
Sowohl das Alte wie das Neue Testament bringen sehr klar zum Ausdruck, daß
ohne die Nächstenliebe, die sich in der Einhaltung der Gebote konkretisiert, die
echte Gottesliebe nicht möglich ist. Mit außerordentlicher Wortgewalt schreibt
der hl. Johannes: "Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott!, aber seinen Bruder haßt,
ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott
nicht lieben, den er nicht sieht" (1 Joh 4,20). Der Evangelist pflichtet der
moralischen Verkündigung Christi bei, die in dem Gleichnis vom barmherzigen
Samariter (vgl. Lk 10,30-37) und in der "Rede" vom Weltgericht auf
bewundernswerte und unmißverständliche Weise Ausdruck findet (vgl. Mt 25,31-46).
15. In der "Bergpredigt", die gleichsam die Magna Charta
der Moral des Evangeliums24
darstellt, sagt Jesus: "Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die
Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu
erfüllen" (Mt 5,17). Christus ist die Schlüsselfigur der Heiligen Schrift: "Ihr
erforscht die Schriften: gerade sie legen Zeugnis über mich ab" (vgl. Joh
5,39); er ist der Mittelpunkt des Heilsplanes, die Zusammenfassung des Alten und
des Neuen Testamentes, der Verheißungen des Gesetzes und ihrer Erfüllung im
Evangelium; er ist die lebendige und ewige Verbindung zwischen dem Alten und dem
Neuen Bund. In seinem Kommentar zur Feststellung des Paulus, "Christus ist das
Ende des Gesetzes" (Röm 10,4), schreibt der hl. Ambrosius: "Ende nicht als
Wegfall, sondern als Fülle des Gesetzes: dieses erfüllt sich in Christus
(plenitudo legis in Christo est) von dem Augenblick an, wo er gekommen ist,
nicht das Gesetz aufzulösen, sondern es zu Ende zu führen, es zu erfüllen.
Ebenso wie esein Altes Testament gibt, aber alle Wahrheit im Neuen Testament
ist, so geschieht es auch mit dem Gesetz: jenes Gesetz, das durch Mose gegeben
worden ist, ist Sinnbild des wahren Gesetzes. Jenes mosaische Gesetz ist also
Nachbildung der Wahrheit".25
Jesus führt die Gebote Gottes, insbesondere das Gebot der Nächstenliebe,
dadurch ihrer Erfüllung zu, daß er ihre Forderungen verinnerlicht und ihren
Anforderungen größere Radikalität verleiht: Die Liebe zum Nächsten entspringt
einem Herzen, das liebt und das eben deshalb, weil es liebt, bereit ist, die
höchsten Forderungen zu leben. Jesus zeigt, daß die Gebote nicht als eine nicht
zu überschreitende Minimalgrenze verstanden werden dürfen, sondern vielmehr als
eine Straße, die offen ist für einen sittlichen und geistlichen Weg der
Vollkommenheit, deren Seele die Liebe ist (vgl. Kol 3,14). So wird das Gebot "Du
sollst nicht töten" zum Aufruf zu einer fürsorglichen Liebe, die das Leben des
Nächsten schützt und fördert; das Gebot, das den Ehebruch verbietet, wird zur
Aufforderung zu einem reinen Blick, der imstande ist, die bräutliche Bedeutung
des Leibes zu achten: "Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist: Du
sollst nicht töten; wer aber jemand tötet, soll dem Gericht verfallen sein. Ich
aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht
verfallen sein ... Ihr habt gehört, daß gesagt worden ist: Du sollst nicht die
Ehe brechen. Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in
seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen" (Mt 5,21-22. 27-28). Jesus selbst
ist die lebendige "Erfüllung" des Gesetzes, da er die Bedeutung des Gesetzes mit
der totalen Selbsthingabe lebt: er selbst wird in seinem Geist zum lebendigen
und persönlichen Gesetz, das zu seiner Nachfolge einlädt, das die Gnade gewährt,
sein Leben und seine Liebe zu teilen, und die Kraft bietet, in Entscheidungen
und Taten von ihm Zeugnis zu geben (vgl. Joh 13,34-35).
"Wenn du vollkommen sein willst" (Mt 19,21)
16. Die Antwort über die Gebote befriedigt den jungen Mann
nicht, der Jesus fragt: "A lle diese Gebote habe ich befolgt. Was fehlt mir
jetzt noch?" (Mt 19,20). Es ist nicht leicht, mit gutem Gewissen zu sagen: Älle
diese Gebote habe ich befolgt", wenn man nur halbwegs den tatsächlichen
Bedeutungsreichtum der im Gesetz Gottes eingeschlossenen Forderungen begreift.
Und dennoch, obwohl es ihm möglich ist, eine solche Antwort zu geben, und obwohl
er von Kindheit an dem sittlichen Ideal mit Ernsthaftigkeit und Großmut gefolgt
ist, weiß der reiche Jüngling, daß er vom Ziel noch weit entfernt ist: vor der
Person Jesu wird er gewahr, daß ihm noch etwas fehlt. Auf das Bewußtsein dieses
Mangels nimmt Jesus in seiner letzten Antwort Bezug: Indem der gute Meister die
Sehnsucht nach einer Fülle, die über die legalistische Auslegung der Gebote
hinausgeht, aufgreift, lädt er den jungen Mann ein, den Weg der Vollkommenheit
einzuschlagen: "Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und
gib das Geld den Armen; so wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel haben;
dann komm und folge mir nach" (Mt 19,21).
Wie schon der vorhergehende Abschnitt der Antwort Jesu, so muß auch dieser
Abschnitt im Zusammenhang der ganzen sittlichen Botschaft des Evangeliums und
insbesondere im Zusammenhang der Bergpredigt, der Seligpreisungen (vgl. Mt
5,3-12) verstanden und interpretiert werden, deren erste ja die Seligpreisung
der Armen ist, derer, "die arm sind vor Gott", wie der hl. Matthäus präzisiert
(Mt 5,3), das heißt der Demütigen. In diesem Sinne kann man sagen, auch die
Seligpreisungen gehören in den Raum, der von der Antwort geöffnet wird, die
Jesus auf die Frage des jungen Mannes gibt: "Was muß ich Gutes tun, um das ewige
Leben zu gewinnen?" . In der Tat verheißt jede Seligpreisung nach einer je
besonderen Sicht gerade jenes "Gute", das den Menschen für das ewige Leben
öffnet, ja das das ewige Leben selbst ist.
Die Seligpreisungen haben nicht eigentlich konkrete Verhaltensnormen zum
Gegenstand, sondern reden von inneren Haltungen und existentiellen
Grundeinstellungen und decken sich daher nicht genau mit den Geboten.
Andererseits besteht keine Trennung oder Diskrepanz zwischen den Seligpreisungen
und den Geboten: beide beziehen sich auf das Gute, auf das ewige Leben. Die
Bergpredigt beginnt mit der Verkündigung der Seligpreisungen, enthält aber auch
den Bezug auf die Gebote (vgl. Mt 5,20-48). Gleichzeitig zeigt die Bergpredigt
die Öffnung und Ausrichtung der Gebote auf die Perspektive der Vollkommenheit,
die zu den Seligpreisungen gehört. Diese sind zunächst Verheißungen, aus denen
indirekt auch normative Anweisungen für das sittliche Leben hervorgehen. In
ihrer ursprünglichen Tiefe sind sie so etwas wie ein Selbstbildnis Christi und
eben deshalb Einladungen zu seiner Nachfolge und zur Lebensgemeinschaft mit
ihm26.
17. Wir wissen nicht, wie weit der junge Mann des
Evangeliums den tiefen und anspruchsvollen Inhalt der ersten Antwort verstanden
hat, die ihm von Jesus gegeben wurde: "Wenn du das Leben erlangen willst, halte
die Gebote!"; es ist jedoch gewiß, daß der Eifer, den der junge Mann angesichts
der sittlichen Forderungen der Gebote erkennen läßt, den unentbehrlichen Boden
darstellt, auf dem das Verlangen nach Vollkommenheit keimen und reifen kann,
also nach der Verwirklichung ihres Sinngehaltes in der Nachfolge Christi. Das
Gespräch Jesu mit dem jungen Mann hilft uns, die Voraussetzungen für das
sittliche Wachstum des zur Vollkommenheit berufenen Menschen zu begreifen: der
junge Mann, der alle Gebote befolgt hat, erweist sich als unfähig, aus eigener
Kraft den nächsten Schritt zu tun. Um ihn zu tun, bedarf es einer reifen
menschlichen Freiheit: "Wenn du willst", und des göttlichen Geschenkes der
Gnade: "Komm und folge mir nach".
Die Vollkommenheit erfordert jene Reife in der Selbsthingabe, zu der die
Freiheit des Menschen berufen ist. Jesus weist den jungen Mann auf die Gebote
als die erste, unverzichtbare Voraussetzung hin, um das ewige Leben zu erlangen;
die Aufgabe all dessen, was der junge Mann besitzt, und die Nachfolge des Herrn
nehmen hingegen den Charakter eines Angebots an: "Wenn du . willst". Das Wort
Jesu enthüllt die besondere Dynamik des Wachstums der Freiheit zur Reife und
bezeugt zugleich die fundamentale Beziehung der Freiheit zum göttlichen Gesetz.
Die Freiheit des Menschen und das Gesetz Gottes widersprechen sich nicht,
sondern im Gegenteil, sie fordern einander. Der Jünger Christi weiß, daß seine
Berufung eine Berufung zur Freiheit ist. "Ihr seid zur Freiheit berufen, Brüder"
(Gal 5,13), verkündet der Apostel Paulus mit Freude und Stolz. Aber sogleich
präzisiert er: "Nur nehmt die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch,
sondern dient einander in Liebe!" (ebd.). Die Festigkeit, mit der sich der
Apostel dem widersetzt, der seine Rechtfertigung dem Gesetz anvertraut, hat
nichts gemein mit der "Befreiung" des Menschen von den Geboten, die im Gegenteil
im Dienst der praktisch geübten Liebe stehen: "Wer den andern liebt, hat das
Gesetz erfüllt. Denn die Gebote: Du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst
nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht begehren! und alle anderen
Gebote sind in dem einen Satz zusammengefaßt : Du sollst deinen Nächsten lieben
wie dich selbst" (Röm 13,8-9). Nachdem der hl. Augustinus von der Befolgung der
Gebote als der ersten unvollkommenen Freiheit gesprochen hat, fährt er fort:
"Warum noch nicht vollkommen?, wird mancher fragen. Weil ,ich spüre, daß in
meinen Gliedern ein anderes Gesetz im Konflikt mit dem Gesetz meiner Vernunft
steht'. Teils Freiheit, teils Knechtschaft: noch nicht vollkommen, noch nicht
rein, noch nicht voll ist die Freiheit, weil wir noch nicht in der Ewigkeit
sind. Zum Teil bewahren wir die Schwäche und zum Teil haben wir die Freiheit
erlangt. Alle unsere Sünden sind bei der Taufe getilgt worden, aber ist etwa die
Schwachheit verschwunden, nachdem die Ungerechtigkeit ausgemerzt worden ist?
Wäre sie verschwunden, würde man auf Erden ohne Sünde leben. Wer wird das zu
behaupten wagen, außer einer, der anmaßend und daher der Barmherzigkeit des
Befreiers unwürdig ist?... Da also eine Schwäche in uns geblieben ist, wage ich
zu sagen, daß wir in dem Maße, in dem wir Gott dienen, frei sind, während wir in
dem Maße, in dem wir dem Gesetz der Sünde folgen, Sklaven sind".27
18. Wer "nach dem Fleische" lebt, empfindet das Gesetz
Gottes als eine Last, ja als eine Verneinung oder jedenfalls eine Einschränkung
der eigenen Freiheit. Wer hingegen von der Liebe beseelt ist und "sich vom
Geist leiten läßt" (Gal 5,16) und den anderen dienen will, findet im Gesetz
Gottes den grundlegenden und notwendigen Weg zur praktischen Übung der frei
gewählten und gelebten Liebe. Ja, er spürt den inneren Drang - ein echtes und
eigenes "Bedürfnis" und nicht etwa einen Zwang -, nicht bei den
Minimalforderungen des Gesetzes stehenzubleiben, sondern sie in ihrer "Fülle" zu
leben. Es ist ein noch unsicherer und brüchiger Weg, solange wir auf Erden sein
werden, der aber ermöglicht wird von der Gnade, die es uns gewährt, die volle
Freiheit der Kinder Gottes zu besitzen (vgl. Röm 8,21) und somit im sittlichen
Leben auf die erhabene Berufung zu antworten, "Söhne im Sohn" zu sein.
Diese Berufung zu vollkommener Liebe ist nicht ausgewählten Gruppen
vorbehalten. Die Aufforderung: "Geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den
Armen", mit der Verheißung: "so wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel
haben", betrifft alle, denn sie ist eine grundlegende Erneuerung des Gebotes der
Nächstenliebe, wie die folgende Einladung "Komm und folge mir nach" die neue
konkrete Form des Gebotes der Gottesliebe ist. Die Gebote und die Einladung Jesu
an den reichen Jüngling stehen im Dienst einer einzigen, unteilbaren Liebe, die
aus eigenem Antrieb nach Vollkommenheit strebt und deren Maß allein Gott ist:
"Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist" (Mt
5,48). Im Lukasevangelium präzisiert Jesus den Sinn dieser Vollkommenheit
weiter: "Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist!" (Lk 6,36).
"Komm und folge mir nach!" (Mt 19,21)
19. Der Weg und zugleich der Inhalt dieser Vollkommenheit
besteht in der Nachfolge Christi, darin, daß man Jesus folgt, nachdem man dem
eigenen Besitz und sich selbst entsagt hat. Genauso endet das Gespräch mit dem
jungen Mann: "Dann komm und folge mir nach!" (Mt 19,21). Es ist eine Einladung,
deren wunderbare Tiefe von den Jüngern erst nach der Auferstehung Christi voll
begriffen werden wird, wenn der Heilige Geist sie in die ganze Wahrheit führen
wird (vgl. Joh 16,13).
Es ist Jesus selbst, der die Initiative ergreift und uns aufruft, ihm zu
folgen. Der Ruf richtet sich vor allem an diejenigen, denen er eine besondere
Sendung anvertraut, angefangen bei den Zwölfen; aber es erscheint ebenso klar,
daß jeder Gläubige dafür disponiert ist, Jünger Christi zu werden (vgl. Apg
6,1). Darum ist die Nachfolge Christi das wesentliche und ursprüngliche
Fundament der christlichen Moral: Wie das Volk Israel Gott folgte, der es durch
die Wüste in das verheißene Land führte (vgl. Ex 13,21), so muß der Jünger Jesus
folgen, zu dem der Vater selbst ihn hinlenkt (vgl. Joh 6,44).
Es handelt sich hier nicht allein darum, auf eine Lehre zu hören und ein
Gebot im Gehorsam anzunehmen. Es geht ganz radikal darum, der Person Jesu selbst
anzuhängen, sein Leben und sein Schicksal zu teilen durch Teilnahme an seinem
freien und liebenden Gehorsam gegenüber dem Vater. Wenn er durch die Antwort des
Glaubens dem folgt, der die fleischgewordene Weisheit ist, ist der Jünger Jesu
wahrhaftig Jünger Gottes (vgl. Joh 6,45). Jesus ist in der Tat das Licht der
Welt, das Licht des Lebens (vgl. Joh 8,12); er ist der Hirte, der die Schafe
führt und nährt (vgl. Joh 10,11-16), er ist der Weg, die Wahrheit und das Leben
(vgl. Joh 14,6), er ist der, der zum Vater führt, so daß wer ihn, den Sohn,
sieht, den Vater sieht (vgl. Joh 14,6-10). Daher heißt den Sohn nachahmen, der
"das Ebenbild des unsichtbaren Gottes" ist (Kol 1,15), den Vater nachahmen.
20. Jesus fordert dazu auf, ihm zu folgen und ihn
nachzuahmen auf dem Weg der Liebe, einer Liebe, die sich aus Liebe zu Gott
völlig den Brüdern hingibt: "Das ist mein Gebot: Liebt einander, so wie ich
euch geliebt habe" (Joh 15,12). Dieses "so wie" verlangt die Nachahmung Jesu,
besonders die Nachahmung seiner Liebe, wie sie in der Fußwaschung symbolischen
Ausdruck findet: "Wenn nun ich, der Herr und Meister, euch die Füße gewaschen
habe, dann müßt auch ihr einander die Füße waschen. Ich habe euch ein Beispiel
gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe" (Joh
13,14-15). Das Handeln Jesu und sein Wort, seine Taten und seine Gebote bilden
die sittliche Richtschnur für das christliche Leben. Denn diese seine Taten und
besonders sein Leiden und Sterben am Kreuz sind die lebendige Offenbarung seiner
Liebe zum Vater und zu den Menschen. Genau diese Liebe soll, so verlangt Jesus,
von allen, die ihm folgen, nachgeahmt werden. Sie ist das "neue" Gebot: "Ein
neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt
auch ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, daß ihr meine Jünger seid:
wenn ihr einander liebt" (Joh 13,34-35).
Dieses "so wie" gibt auch das Maß an, mit dem Jesus geliebt hat und mit dem
seine Jünger einander lieben sollen. Nachdem er gesagt hat: "Das ist mein Gebot:
Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe", fährt Jesus mit den Worten fort,
die auf das Opfergeschenk seines Lebens am Kreuz als Zeugnis seiner Liebe "bis
zur Vollendung" (Joh 13,1) hinweisen: "Es gibt keine größere Liebe, als wenn
einer sein Leben für seine Freunde hingibt" (Joh 15,13).
Als Jesus den jungen Mann auffordert, ihm auf dem Weg der Vollkommenheit zu
folgen, verlangt er von ihm, vollkommen zu sein im Gebot der Liebe, in "seinem"
Gebot: sich einzufügen in das Leben seiner Ganzhingabe, die Liebe des "guten"
Meisters, die Liebe dessen, der "bis zur Vollendung" geliebt hat, nachzuahmen
und nachzuleben. Das ist es, was Jesus von jedem Menschen fordert, der sich in
seine Nachfolge begeben will: "Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich
selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach" (Mt 16,24).
21. Nachfolge Christi ist nicht eine äußerliche Nachahmung,
denn sie berührt den Menschen in seinem tiefsten Inneren. Jünger Christi zu sein
bedeutet ihm gleich geworden zu sein, ihm, der sich zum Knecht gemacht hat bis
zur Selbsthingabe am Kreuz (vgl. Phil 2,5-8). Durch den Glauben wohnt Christus
im Herzen des Glaubenden (vgl . Eph 3,17), und so wird der Jünger seinem Herrn
angeglichen und gleichgestaltet. Das ist die Frucht der Gnade, der wirksamen
Anwesenheit des Heiligen Geistes in uns.
Durch seine Einverleibung in Christus wird der Christ Glied seines Leibes,
der die Kirche ist (vgl. 1 Kor 12,13.27). Unter dem Antrieb des Geistes
gestaltet die Taufe den Gläubigen auf radikale Weise Christus gleich im
österlichen Geheimnis des Todes und der Auferstehung, sie "zieht ihm Christus
an" (vgl. Gal 3,27): "Freuen wir uns und danken wir - ruft der hl. Augustinus an
die Getauften gewandt aus -: wir sind nicht nur Christen geworden, sondern
Christus (.). Staunt und freut euch: Wir sind Christus geworden!".28
Der Sünde gestorben, empfängt der Getaufte das neue Leben (vgl. Röm 6,3-11):
während er durch Gott in Christus Jesus lebt, ist er aufgerufen, nach dem Geist
zu wandeln und dessen Früchte im Leben kundzutun (vgl. Gal 5,16-25). Die
Teilnahme an der Eucharistie, dem Sakrament des Neuen Bundes (vgl. 1 Kor
11,23-29), ist der Höhepunkt der Angleichung an Christus, Quelle des "ewigen
Lebens" (vgl. Joh 6,51-58), Ursprung und Kraft der totalen Selbsthingabe, derer
wir nach dem Gebot Jesu - nach dem Zeugnis, das Paulus überliefert hat - in der
Eucharistiefeier und im Leben gedenken sollen: "Denn sooft ihr von diesem Brot
eßt und aus dem Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn, bis er kommt" (1
Kor 11,26).
"Für Gott aber ist alles möglich" (Mt 19,26)
22. Eine bittere Enttäuschung ist der Schluß des Gespräches
Jesu mit dem reichen Jüngling: Äls der junge Mann das hörte, ging er traurig
weg; denn er hatte ein großes Vermögen" (Mt 19,22). Nicht nur der reiche Mann,
sondern auch die Jünger erschrecken bei dem Aufruf Jesu zur Nachfolge, dessen
Forderungen die menschlichen Bestrebungen und Kräfte übersteigen: Äls die Jünger
das hörten, erschraken sie sehr und sagten: Wer kann dann noch gerettet werden?"
(Mt 19,25). Aber der Meister verweist auf die Macht Gottes: "Für Menschen ist
das unmöglich, für Gott aber ist alles möglich" (Mt 19,26).
Im gleichen Kapitel des Matthäusevangeliums (19,3-10) weist Jesus bei der
Interpretation des mosaischen Gesetzes über die Ehe das Recht auf Verstoßung der
Frau zurück unter Hinweis auf einen im Vergleich zum Gesetz des Mose
ursprünglicheren und verbindlicheren Änfang": den ursprünglichen Plan Gottes mit
den Menschen, einen Plan, dem der Mensch nach dem Sündenfall nicht mehr
angemessen war: "Nur weil ihr so hartherzig seid, hat Mose euch erlaubt, eure
Frauen aus der Ehe zu entlassen. Am Anfang war das nicht so" (Mt 19,8). Der
Hinweis auf den Änfang" macht die Jünger bestürzt, und sie kommentieren ihn mit
den Worten: "Wenn das die Stellung des Mannes in der Ehe ist, dann ist es nicht
gut zu heiraten" (Mt 19,10). Und Jesus, der sich in besonderer Weise auf das
Charisma der Ehelosigkeit üm des Himmelreiches willen" (Mt 19,12) bezieht, aber
eine allgemeine Regel darlegt, verweist auf die neue, überraschende Möglichkeit,
die dem Menschen von der Gnade Gottes eröffnet wird: Jesus sagte zu ihnen:
"Nicht alle können dieses Wort erfassen, sondern nur die, denen es gegeben ist"
(Mt 19,11).
Die Liebe Christi nachzuahmen und nachzuleben, ist dem Menschen aus eigener
Kraft allein nicht möglich. Er wird zu dieser Liebe fähig allein kraft einer
Gabe, die er empfangen hat. Wie der Herr Jesus die Liebe von seinem Vater
empfängt, so gibt er sie seinerseits aus freien Stücken an die Jünger weiter:
"Wie mich der Vater geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt. Bleibt in meiner
Liebe!" (Joh 15,9). Die Gabe Christi ist sein Geist, dessen erste "Frucht" (vgl.
Gal 5,22) die Liebe ist: "Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen
durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist" (Röm 5,5). Der hl. Augustinus
fragt sich: "Ist es die Liebe, die uns die Gebote befolgen läßt, oder ist es die
Befolgung der Gebote, die die Liebe entstehen läßt?"29
23. "Das Gesetz des Geistes und des Lebens in Jesus
Christus hat dich frei gemacht vom Gesetz der Sünde und des Todes" (Röm 8,2).
Mit diesen Worten leitet uns der Apostel Paulus an, das Verhältnis zwischen dem
(alten) Gesetz und der Gnade (neues Gesetz) in der Perspektive der
Heilsgeschichte, die sich in Christus erfüllt hat, zu betrachten. Er erkennt die
erzieherische Rolle des Gesetzes an, das dem sündigen Menschen ermöglicht, sein
Unvermögen zu ermessen, und ihn dadurch, daß er ihm die Anmaßung der
Selbstgenügsamkeit nimmt, für die Anrufung und Annahme des "Lebens im Geiste"
öffnet: in diesem neuen Leben ist die Einhaltung der Gebote Gottes möglich.
Durch den Glauben an Christus sind wir gerecht geworden (vgl. Röm 3,28): die
"Gerechtigkeit", die das Gesetz fordert, aber keinem zu verleihen vermag, findet
jeder Gläubige vom Herrn Jesus bekundet und verliehen. So faßt der hl.
Augustinus wiederum auf wunderbare Weise die paulinische Dialektik von Gesetz
und Gnade zusammen: "Deswegen ist das Gesetz gegeben worden, damit man die Gnade
erbitte; die Gnade wurde gegeben, damit man das Gesetz befolge".30
Die Liebe und das Leben nach dem Evangelium dürfen nicht zuerst in der Gestalt
des Gebots gedacht werden, denn das, was sie verlangen, geht über die Kräfte des
Menschen hinaus: sie sind nur möglich als Frucht einer Gabe Gottes, der durch
seine Gnade das Herz des Menschen heil und gesund macht und es umgestaltet:
"Denn das Gesetz wurde durch Mose gegeben, die Gnade und Wahrheit kamen durch
Jesus Christus" (Joh 1,17). Darum ist die Verheißung des ewigen Lebens an die
Gabe der Gnade gebunden, und das Geschenk des Geistes, das wir empfangen haben,
ist bereits "der erste Anteil unseres Erbes" (Eph 1,14).
24. So offenbaren sich das Gebot der Liebe und jenes der
Vollkommenheit, auf die ersteres hingeordnet ist, in ihrer authentischen
Ursprünglichkeit: Es ist eine Möglichkeit, die dem Menschen ausschließlich von
der Gnade, von der Gabe Gottes, von seiner Liebe, eröffnet wird. Andererseits
bewirkt und trägt das Bewußtsein, in Jesus Christus die Liebe Gottes zu
besitzen, die verantwortliche Antwort für eine volle Liebe zu Gott und unter den
Brüdern, wie der Apostel Johannes in seinem ersten Brief eindringlich in
Erinnerung bringt: "Liebe Brüder, wir wollen einander lieben; denn die Liebe ist
aus Gott, und jeder, der liebt, stammt von Gott und erkennt Gott. Wer nicht
liebt, hat Gott nicht erkannt; denn Gott ist die Liebe ... Liebe Brüder, wenn
Gott uns so geliebt hat, müssen auch wir einander lieben ... Wir wollen lieben,
weil er uns zuerst geliebt hat" (1 Joh 4,7-8.11.19).
Diese unauflösliche Verbindung zwischen der Gnade des Herrn und der Freiheit
des Menschen, zwischen der Gabe und der Aufgabe hat der hl. Augustinus mit
schlichten und tiefen Worten zum Ausdruck gebracht, wenn er betet: "Da quod
iubes et iube quod vis" (Gib, was Du gebietest, und gebiete, was Du willst).31
Die Gabe mindert nicht, sondern vermehrt die sittlichen Forderungen der
Liebe: Ünd das ist sein Gebot: Wir sollen an den Namen seines Sohnes Jesus
Christus glauben und einander lieben, wie es seinem Gebot entspricht" (1 Joh
3,23). Nur unter der Bedingung, daß man die Gebote hält, kann man, wie Jesus
sagt, in der Liebe "bleiben": "Wenn ihr meine Gebote haltet, werdet ihr in
meiner Liebe bleiben, so wie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in
seiner Liebe bleibe" (Joh 15,10). Der hl. Thomas, der die Sinnspitze der
moralischen Botschaft Jesu und der Verkündigung der Apostel erfaßte, konnte in
Wiedergabe einer großartigen Zusammenschau der großen Traditionen der
Kirchenväter des Ostens und des Westens, insbesondere des hl. Augustinus,32
schreiben: das Neue Gesetz ist die durch den Glauben an Christus gewährte Gnade
des Heiligen Geistes.33
Die äußeren Vorschriften, von denen das Evangelium auch redet, bereiten auf
diese Gnade vor oder bringen deren Wirkungen im Leben zum Tragen. Das Neue
Gesetz begnügt sich nämlich nicht damit zu sagen, was man tun muß, sondern es
verleiht auch die Kraft, "die Wahrheit zu tun" (vgl. Joh 3,21). Gleichzeitig hat
der hl. Johannes Chrysosthomos angemerkt, daß das Neue Gesetz genau da gegeben
wurde, als der Heilige Geist vom Himmel herabkam, und daß die Apostel nicht vom
Berg herabstiegen "mit Steintafeln in ihren Händen wie Mose; sondern sie kamen
und trugen den Heiligen Geist in ihren Herzen ..., nachdem sie durch seine Gnade
zu einem lebendigen Gesetz, zu einem beseelten Buch geworden waren".34
"Seid gewiß: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt" (Mt 28,20)
25. Das Gespräch Jesu mit dem reichen Jüngling wird
gewissermaßen in jeder Epoche der Geschichte, auch heute, weitergeführt. Die
Frage: "Meister, was muß ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen?" bricht
im Herzen jedes Menschen auf, und es ist immer und allein Christus, der die
volle und entscheidende Antwort anbietet. Der Meister, der die Gebote Gottes
lehrt, der zur Nachfolge einlädt und die Gnade für ein neues Leben schenkt, ist
immer unter uns gegenwärtig und tätig, gemäß der Verheißung: "Seid gewiß: Ich
bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt" (Mt 28,20). Das gleichzeitige
Gegenwärtigsein Christi mit dem Menschen jeder Zeit verwirklicht sich im
lebendigen Leib der Kirche. Darum hat der Herr seinen Jüngern den Heiligen Geist
verheißen: er würde sie an seine Gebote "erinnern" und sie ihnen verständlich
machen (vgl. Joh 14,26) und würde der Anfang und Quell eines neuen Lebens in der
Welt sein (vgl. Joh 3,5-8; Röm 8,1-13).
Die von Gott im Alten Bund auferlegten und im Neuen und Ewigen Bund in der
Person des menschgewordenen Gottessohnes erfüllten sittlichen Gebote müssen treu
bewahrt und in den verschiedenen Kulturen im Laufe der Geschichte immer wieder
aktualisiert werden. Die Aufgabe ihrer Interpretation war von Jesus den Aposteln
und ihren Nachfolgern mit dem besonderen Beistand des Geistes der Wahrheit
übertragen worden: "Wer euch hört, der hört mich" (Lk 10,16). Mit dem Licht und
der Kraft dieses Geistes haben die Apostel den Auftrag erfüllt, das Evangelium
zu verkünden und "im Weg" des Herrn zu unterweisen (vgl. Apg 18,25), indem sie
vor allem die Nachfolge und Nachahmung Christi lehren: "Für mich ist Christus
das Leben" (Phil 1,21).
26. In der Moralkatechese der Apostel gibt es neben
Ermahnungen und an den kulturellen Kontext gebundenen Weisungen eine ethische
Unterweisung mit genauen Verhaltensnormen. Das geht aus ihren Briefen hervor,
die vom Heiligen Geist geleitete Interpretation der Gebote des Herrn enthalten,
die unter den verschiedenen kulturellen Gegebenheiten gelebt werden sollen
(vgl. Röm 12-15; 1 Kor 11-14; Gal 5-6; Eph 4-6; Kol 3-4; 1 Petr und Jak). Die
Apostel, die mit der Verkündigung des Evangeliums beauftragt waren, haben seit
den Anfängen der Kirche kraft ihrer pastoralen Verantwortung über die
Rechtschaffenheit des Verhaltens der Christen gewacht,35
ebenso wie sie über die Reinheit des Glaubens und über die Weitergabe der
göttlichen Gaben durch die Sakramente wachten.36
Die ersten Christen, die sowohl aus dem jüdischen Volk wie aus den anderen
Völkern stammten, unterschieden sich von den Heiden nicht nur durch ihren
Glauben und ihre Liturgie, sondern auch durch das Zeugnis ihres am Neuen Gesetz
inspirierten sittlichen Verhaltens.37
Die Kirche ist nämlich zugleich Glaubens- und Lebensgemeinschaft; ihre Norm ist
"der Glaube, der in der Liebe wirksam ist" (Gal 5,6).
Kein Riß darf die Harmonie zwischen Glaube und Leben gefährden: die Einheit
der Kirche wird nicht nur von den Christen verletzt, die die Glaubenswahrheiten
ablehnen oder verzerren, sondern auch von jenen, die die sittlichen
Verpflichtungen verkennen, zu denen sie das Evangelium aufruft (vgl. 1 Kor
5,9-13). Die Apostel haben jede Trennung zwischen dem Anliegen des Herzens und
den Taten, die es zum Ausdruck bringen und kontrollieren, entschieden abgelehnt
(vgl. 1 Joh 2,3-6). Und seit der apostolischen Zeit haben die Bischöfe der
Kirche die Vorgehensweisen derjenigen mit aller Klarheit angezeigt, die mit
ihren Lehren oder mit ihrem Verhalten Spaltungen Vorschub leisteten.38
27. Die Förderung und Bewahrung des Glaubens und des
sittlichen Lebens in der Einheit der Kirche ist die von Jesus den Aposteln
anvertraute Aufgabe (vgl. Mt 28,19-20), die auf das Amt ihrer Nachfolger
übergeht. Das alles findet sich in der lebendigen Überlieferung, durch die - wie
das II. Vatikanische Konzil lehrt - "die Kirche in Lehre, Leben und Kult alles,
was sie selber ist, alles, was sie glaubt, durch die Zeiten weiterführt und
allen Geschlechtern übermittelt. Diese apostolische Überlieferung kennt in der
Kirche unter dem Beistand des Heiligen Geistes einen Fortschritt".39
Im Geist empfängt die Kirche die Schrift und gibt sie weiter als Zeugnis für
"das Große", das Gott in der Geschichte bewirkt (vgl. Lk 1,49), durch den Mund
der Kirchenväter und -lehrer bekennt sie die Wahrheit des fleischgewordenen
Wortes, setzt dessen Gebote und die Liebe im Leben der Heiligen und im Opfer der
Märtyrer in die Praxis um, feiert deren Hoffnung in der Liturgie: durch die
Überlieferung empfangen die Christen "die lebendige Stimme des Evangeliums"40 als
gläubigen Ausdruck der göttlichen Weisheit und des göttlichen Willens.
Innerhalb der Überlieferung entwickelt sich mit dem Beistand des Heiligen
Geistes die authentische Interpretation des Gesetzes des Herrn. Der Geist
selbst, der am Beginn der Offenbarung der Gebote und der Lehren Jesu steht,
gewährleistet, daß sie heiligmäßig bewahrt, getreu dargelegt und im Wechsel der
Zeiten und Umstände korrekt angewandt werden. Diese Äktualisierung" der Gebote
ist Zeichen und Frucht eines tieferen Eindringens in die Offenbarung und eines
Verstehens neuer historischer und kultureller Situationen im Lichte des
Glaubens. Sie kann jedoch nur die bleibende Gültigkeit der Offenbarung
bestätigen und sich in den Traditionsstrom der Auslegung einfügen, den die große
Lehr- und Lebensüberlieferung der Kirche bildet und dessen Zeugen die Lehre der
Kirchenväter, das Leben der Heiligen, die Liturgie der Kirche und das Lehramt
sind.
Insbesondere ist - wie das Konzil sagt - "die Aufgabe, das geschriebene oder
überlieferte Wort Gottes verbindlich zu erklären, nur dem lebendigen Lehramt der
Kirche anvertraut, dessen Vollmacht im Namen Jesu Christi ausgeübt wird".41 Auf diese
Weise erscheint die Kirche in ihrem Leben und in ihrer Lehre als "die Säule und
das Fundament der Wahrheit" (1 Tim 3,15), auch der Wahrheit über das sittliche
Handeln. In der Tat "kommt es der Kirche zu, immer und überall die sittlichen
Grundsätze auch über die soziale Ordnung zu verkündigen, wie auch über
menschliche Dinge jedweder Art zu urteilen, insoweit die Grundrechte der
menschlichen Person oder das Heil der Seelen dies erfordern". 42
Gerade was die Fragestellungen anbelangt, die für die Diskussion von Fragen
der Moral heute kennzeichnend sind und in deren Umfeld sich neue Tendenzen und
Theorien entwickelt haben, empfindet es das Lehramt in Treue zu Jesus Christus
und in der Kontinuität der Tradition der Kirche als sehr dringende Pflicht, sein
eigenes Urteil und seine Lehre anzubieten, um dem Menschen auf seinem Weg zur
Wahrheit und zur Freiheit behilflich zu sein.
Kapitel II
"Gleicht euch nicht der Denkweise dieser Welt an"
(Röm 12,2)
Die Kirche und die Beurteilung einiger Tendenzen heutiger Moraltheologie
Verkünden, was der gesunden Lehre entspricht (vgl. Tit 2,1)
28. Die Betrachtung des Gesprächs zwischen Jesus und dem
jungen reichen Mann ermöglicht uns, die wesentlichen Inhalte der Offenbarung des
Alten und des Neuen Testamentes im Blick auf das sittliche Handeln
zusammenzustellen. Diese sind die Unterordnung des Menschen und seines Tuns
gegenüber Gott, dem, der "allein gut ist"; der in den göttlichen Geboten
anschaulich aufgezeigte Zusammenhang zwischen dem sittlich Guten der
menschlichen Handlungen und dem ewigen Leben; die Nachfolge Christi; der dem
Menschen die Perspektive der vollkommenen Liebe eröffnet und schließlich die
Gabe des Heiligen Geistes als Quelle und Stütze des sittlichen Lebens der "neuen
Schöpfung" (vgl. 2 Kor 5,17).
Die Kirche hat bei ihrer moralischen Reflexion stets die Worte bedacht, die
Jesus an den reichen Jüngling gerichtet hat. Die Heilige Schrift bleibt in der
Tat die lebendige und fruchtbare Quelle der Sittenlehre der Kirche, woran das
II. Vatikanische Konzil erinnert hat: Das Evangelium ist die Quelle "jeglicher
Heilswahrheit und Sittenlehre".43
Getreu bewahrte sie, was das Wort Gottes nicht nur im Blick auf die
Glaubenswahrheiten, sondern auch was es hinsichtlich des sittlichen Handelns
lehrt, das heißt des Handelns, das Gott gefällt (vgl. 1 Thess 4,1); dadurch
erzielt sie eine Weiterentwicklung in der Lehre, analog zu jener im Bereich der
Glaubenswahrheiten. Unter dem Beistand des Heiligen Geistes, der sie in die
ganze Wahrheit führt (vgl. Joh, 16,13), hat die Kirche nicht aufgehört - und
kann sie niemals aufhören -, das "Geheimnis des fleischgewordenen Wortes" zu
erforschen, in dem sich ihr "das Geheimnis des Menschen wahrhaft aufklärt".44
29. Das kirchliche Nachdenken über Moral, das sich immer im
Lichte Christi, des "guten Meisters", vollzog, hat sich auch in der besonderen
Form der theologischen Wissenschaft, der sogenannten "Moraltheologie",
entfaltet, einer Wissenschaft, die die göttliche Offenbarung aufgreift und
befragt und zugleich den Anforderungen menschlicher Vernunft entspricht. Die
Moraltheologie ist eine Reflexion, die die "Moralität", das heißt das Gute und
das Schlechte der menschlichen Handlungen und der Person, die sie vollzieht, zum
Inhalt hat, und in diesem Sinne steht sie allen Menschen offen; aber sie ist
auch "Theologie", weil sie Anfang und Endziel des sittlichen Handelns in dem
erkennt, der "allein gut ist" und der dem Menschen dadurch, daß er sich ihm in
Christus hingibt, die Glückseligkeit des göttlichen Lebens anbietet.
Das II. Vatikanische Konzil hat die Wissenschaftler aufgefordert, "besondere
Sorge auf die Vervollkommnung der Moraltheologie (zu verwenden), die, reicher
genährt aus der Lehre der Schrift, in wissenschaftlicher Darlegung die
Erhabenheit der Berufung der Gläubigen in Christus und ihre Verpflichtung, in
der Liebe Frucht zu tragen für das Leben der Welt, erhellen soll". 45
Ebenso hat das Konzil die Theologen eingeladen, ünter Wahrung der der Theologie
eigenen Methoden und Erfordernisse nach immer geeigneteren Weisen zu suchen, die
Lehre des Glaubens den Menschen ihrer Zeit zu vermitteln. Denn die
Glaubenshinterlage selbst, das heißt die Glaubenswahrheiten, darf nicht
verwechselt werden mit ih-rer Aussageweise, auch wenn diese immer denselben Sinn
und Inhalt meint".46
Von daher die weitere, sich auf alle Gläubigen erstreckende, besonders an die
Theologen gerichtete Aufforderung: "Die Gläubigen sollen also in engster
Verbindung mit den anderen Menschen ihrer Zeit leben und sich bemühen, ihre
Denk- und Urteilsweisen, die in der Geisteskultur zur Erscheinung kommen,
vollkommen zu verstehen".47
Das Bemühen vieler Theologen, die sich von der Ermutigung des Konzils
gestärkt fühlten, hat bereits seine Früchte getragen in bemerkenswerten und
nützlichen Reflexionen über Glaubenswahrheiten, die es zu glauben und im Leben
anzuwenden gilt und die von ihnen in einer dem Empfinden und den Fragen der
Menschen unserer Zeit angemesseneren Form dargeboten werden. Die Kirche und
insbesondere die Bischöfe, die Jesus Christus vor allem mit dem Dienst der Lehre
betraut hat, nehmen dieses Bemühen mit Dankbarkeit an und ermutigen die
Theologen zum Weiterarbeiten, das beseelt wird von einer tiefen, echten
"Gottesfurcht, die der Anfang der Erkenntnis ist" (vgl. Spr 1,7).
Zugleich haben sich im Bereich der nachkonziliaren theologischen Diskussionen
jedoch manche Interpretationen der christlichen Moral herausgebildet, die mit
der "gesunden Lehre" (2 Tim 4,3) unvereinbar sind. Absicht des Lehramtes der
Kirche ist es gewiß nicht, den Gläubigen ein besonderes theologisches und schon
gar nicht ein philosophisches System aufzuerlegen; aber um das Wort Gottes
"heilig zu bewahren und treu auszulegen",48
ist es verpflichtet, die Unvereinbarkeit gewisser Richtungen des theologischen
Denkens oder mancher philosophischer Aussagen mit der geoffenbarten Wahrheit
kundzutun.49
30. Wenn ich mich mit dieser Enzyklika an euch, Mitbrüder
im Bischofsamt, wende, möchte ich die Prinzipien darlegen, die für die
Unterscheidung, was der "gesunden Lehre" widerspricht, erforderlich sind; dazu
verweise ich auf jene Elemente der Sittenlehre der Kirche, die heute besonders
dem Irrtum, der Zweideutigkeit oder dem Vergessen ausgesetzt zu sein scheinen.
Das sind allerdings jene Elemente, von denen die Äntwort auf die ungelösten
Rätsel des menschlichen Daseins (abhängt), die seit eh und je die Herzen der
Menschen im tiefsten bewegen: Was ist der Mensch? Was ist Sinn und Ziel unseres
Lebens? Was ist das Gute, was die Sünde? Woher kommt das Leid, und welchen Sinn
hat es? Was ist der Weg zum wahren Glück? Was ist der Tod, das Gericht und die
Vergeltung nach dem Tode? Und schließlich: Was ist jenes letzte und unsagbare
Geheimnis unserer Existenz, aus dem wir kommen und wohin wir gehen?".50
Diese und andere Fragen - wie z.B.: Was ist die Freiheit, und welcher Art ist
ihre Beziehung zu der im Gesetz Gottes enthaltenen Wahrheit? Welche Rolle kommt
dem Gewissen bei der Ausformung des sittlichen Charakters des Menschen zu? Wie
kann man in Übereinstimmung mit der Wahrheit über das Gute die Rechte und
konkreten Pflichten der menschlichen Person erkennen? - lassen sich in der
fundamentalen Frage zusammenfassen, die der junge Mann im Evangelium Jesus
stellte: "Meister, was muß ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen?" Die
Kirche, die von Jesus ausgesandt wurde, das Evangelium zu verkündigen und "zu
allen Völkern zu gehen ... und sie zu lehren, alles zu befolgen", was er ihr
geboten hat (vgl. Mt 28,19-20), schlägt auch heute noch die Antwort des Meisters
vor: Diese besitzt ein Licht und eine Kraft, die fähig sind, auch die
umstrittensten und kompliziertesten Fragen zu lösen. Dieses Licht und diese
Kraft treiben die Kirche dazu an, unablässig nicht nur die dogmatische, sondern
auch die moralische Reflexion in einem interdisziplinären Umfeld zu entfalten,
wie dies besonders für die neuen Probleme notwendig ist.51
Genau in diesem Licht und in dieser Kraft vollbringt das Lehramt der Kirche
seit jeher sein Werk der Unterscheidung, indem es die Ermahnung des Apostels
Paulus an Timotheus annimmt und ihr nachlebt: "Ich beschwöre dich bei Gott und
bei Christus Jesus, dem kommenden Richter der Lebenden und der Toten, bei seinem
Erscheinen und bei seinem Reich: Verkünde das Wort, tritt dafür ein, ob man es
hören will oder nicht; weise zurecht, tadle, ermahne, in unermüdlicher und
geduldiger Belehrung. Denn es wird eine Zeit kommen, in der man die gesunde
Lehre nicht erträgt, sondern sich nach eigenen Wünschen immer neue Lehrer sucht,
die den Ohren schmeicheln; und man wird der Wahrheit nicht mehr Gehör schenken,
sondern sich Fabeleien zuwenden. Du aber sei in allem nüchtern, ertrage das
Leiden, verkünde das Evangelium, erfülle treu deinen Dienst!" (2 Tim 4,1-5; vgl.
Tit 1.10.13-14).
"Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch befreien"
(Joh 8,32)
31. Die umstrittensten und unterschiedlich gelösten
menschlichen Probleme in der gegenwärtigen Reflexion über die Moral sind, wenn
auch in je verschiedener Weise, mit einem Grundproblem verknüpft: der Freiheit
des Menschen.
Ohne Zweifel ist unsere Zeit zu einem besonders lebhaften Gespür für die
Freiheit gelangt. "Die Würde der menschlichen Person kommt den Menschen unserer
Zeit immer mehr zum Bewußtsein", stellte schon die Konzilserklärung über die
Religionsfreiheit Dignitatis humanae fest.52
Daher der Anspruch der Menschen, "daß sie bei ihrem Tun ihr eigenes Urteil und
eine verantwortliche Freiheit besitzen und davon Gebrauch machen sollen, nicht
unter Zwang, sondern vom Bewußtsein der Pflicht geleitet".53
Insbesondere das Recht auf Religions- und Gewissensfreiheit auf dem Weg zur
Wahrheit wird zunehmend als Fundament der Rechte der menschlichen Person, in
ihrer Gesamtheit betrachtet, empfunden.54
Der geschärfte Sinn für die Würde und Einmaligkeit der menschlichen Person
wie auch für die dem Weg des Gewissens gebührende Achtung stellt also sicher
eine positive Errungenschaft der modernen Kultur dar. Diese an sich authentische
Wahrnehmung hat vielfältige, mehr oder weniger angemessene Ausdrucksformen
gefunden, von denen jedoch einige von der Wahrheit über den Menschen als
Geschöpf und Ebenbild Gottes abweichen und deshalb korrigiert bzw. im Lichte des
Glaubens geläutert werden müssen.55
32. So ist man in manchen modernen Denkströmungen so weit
gegangen, die Freiheit derart zu verherrlichen, daß man sie zu einem Absolutum
machte, das die Quelle aller Werte wäre. In diese Richtung bewegen sich Lehren,
die jeden Sinn für die Transzendenz verloren haben oder aber ausdrücklich
atheistisch sind. Dem Gewissen des einzelnen werden die Vorrechte einer obersten
Instanz des sittlichen Urteils zugeschrieben, die kategorisch und unfehlbar über
Gut und Böse entscheidet. Zu der Aussage von der Verpflichtung, dem eigenen
Gewissen zu folgen, tritt unberechtigterweise jene andere, das moralische
Urteil sei allein deshalb wahr, weil es dem Gewissen entspringt. Auf diese
Weise ist aber der unabdingbare Wahrheitsanspruch zugunsten von Kriterien wie
Aufrichtigkeit, Authentizität, "Übereinstimmung mit sich selbst" abhanden
gekommen, so daß man zu einer radikal subjektivistischen Konzeption des
sittlichen Urteils gelangt.
Wie man sogleich erkennen kann, gehört zu dieser Entwicklung die Krise um die
Wahrheit. Nachdem die Idee von einer für die menschliche Vernunft erkennbaren
universalen Wahrheit über das Gute verloren gegangen war, hat sich unvermeidlich
auch der Begriff des Gewissens gewandelt; das Gewissen wird nicht mehr in seiner
ursprünglichen Wirklichkeit gesehen, das heißt als ein Akt der Einsicht der
Person, der es obliegt, die allgemeine Erkenntnis des Guten auf eine bestimmte
Situation anzuwenden und so ein Urteil über das richtige zu wählende Verhalten
zu fällen; man stellte sich darauf ein, dem Gewissen des einzelnen das Vorrecht
zuzugestehen, die Kriterien für Gut und Böse autonom festzulegen und
dementsprechend zu handeln. Diese Sicht ist nichts anderes als eine
individualistische Ethik, aufgrund welcher sich jeder mit seiner Wahrheit, die
von der Wahrheit der anderen verschieden ist, konfrontiert sieht. In seinen
äußersten Konsequenzen mündet der Individualismus in die Verneinung sogar der
Idee einer menschlichen Natur.
Diese unterschiedlichen Auffassungen bilden den Ausgangspunkt jener
Denkrichtungen, die eine Antinomie zwischen Sittengesetz und Gewissen, zwischen
Natur und Freiheit behaupten.
33. Parallel zur Verherrlichung der Freiheit und
paradoxerweise im Widerspruch dazu stellt die moderne Kultur dieselbe Freiheit
radikal in Frage. Eine Reihe wissenschaftlicher Disziplinen, die unter dem Namen
"Humanwissenschaften" zusammengefaßt werden, haben richtigerweise die
Aufmerksamkeit auf die psychologischen und gesellschaftlichen Konditionierungen
gelenkt, die die Ausübung der menschlichen Freiheit belasten. Die Kenntnis
solcher Bedingtheiten und die ihnen geschenkte Aufmerksamkeit sind wichtige
Errungenschaften, die in verschiedenen Daseinsbereichen, wie z.B. in der
Pädagogik oder in der Rechtsprechung, Anwendung gefunden haben. Aber manche sind
in Überschreitung der Schlußfolgerungen, die sich aus diesen Beobachtungen
legitimerweise ziehen lassen, so weit gegangen, die Wirklichkeit der
menschlichen Freiheit selbst anzuzweifeln oder zu leugnen.
Erwähnt werden müssen auch einige mißbräuchliche Auslegungen der
wissenschaftlichen Forschung auf anthropologischem Gebiet. Aufgrund der großen
Vielfalt der in der Menschheit vorhandenen Bräuche, Gewohnheiten und
Einrichtungen schließt man, wenn auch nicht immer gerade auf die Leugnung
universaler menschlicher Werte, so doch zumindest auf eine relativistische
Moralauffassung.
34. "Meister, was muß ich Gutes tun, um das ewige Leben zu
erlangen?" Die moralische Frage, auf die Christus antwortet, kann nicht das
Problem der Freiheit ausklammern, ja sie stellt es in ihren Mittelpunkt, weil es
Moral ohne Freiheit nicht gibt: "Nur frei kann der Mensch sich zum Guten
hinwenden".56 Aber
welche Freiheit ist gemeint? Vor unseren Zeitgenossen, die die Freiheit
"hochschätzen und sie leidenschaftlich erstreben", sie jedoch öft in verkehrter
Weise vertreten, als Berechtigung, alles zu tun, wenn es nur gefällt, auch das
Böse", legt das Konzil die "wahre" Freiheit dar: "Die wahre Freiheit aber ist
ein erhabenes Kennzeichen des Bildes Gottes im Menschen: Gott wollte nämlich den
Menschen ,der Macht der eigenen Entscheidung überlassen' (vgl. Sir 15,14), so
daß er seinen Schöpfer aus eigenem Entscheid suche und frei zur vollen und
seligen Vollendung in Einheit mit Gott gelange".57
Wenn für den Menschen das Recht besteht, auf seinem Weg der Wahrheitssuche
respektiert zu werden, so besteht noch vorher die für jeden schwerwiegende
moralische Verpflichtung, die Wahrheit zu suchen und an der anerkannten Wahrheit
festzuhalten.58 In diesem
Sinne behauptete Kardinal J.H. Newman, herausragender Verfechter der Rechte des
Gewissens, mit Entschiedenheit: "Das Gewissen hat Rechte, weil es Pflichten
hat".59
Gewisse Richtungen der heutigen Moraltheologie interpretieren unter dem
Einfluß hier in Erinnerung gerufener subjektivistischer und individualistischer
Strömungen das Verhältnis der Freiheit zum Sittengesetz, zur menschlichen Natur
und zum Gewissen in neuer Weise und schlagen neuartige Kriterien für die
sittliche Bewertung von Handlungen vor: es sind dies Tendenzen, die in ihrer
Verschiedenheit darin übereinstimmen, die Abhängigkeit der Freiheit von der
Wahrheit abzuschwächen oder sogar zu leugnen.
Wollen wir diese Tendenzen einer kritischen Prüfung unterziehen, die geeignet
ist, nicht nur zu erkennen, was an ihnen legitim, nützlich und wertvoll ist,
sondern zugleich ihre Zweideutigkeiten, Gefahren und Irrtümer aufzuzeigen, dann
müssen wir sie im Lichte der grundlegenden Abhängigkeit der Freiheit von der
Wahrheit prüfen, eine Abhängigkeit, die ihren klarsten und maßgebendsten
Ausdruck in den Worten Christi gefunden hat: "Dann werdet ihr die Wahrheit
erkennen, und die Wahrheit wird euch befreien" (Joh 8,32).
I. Freiheit und Gesetz
"Doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen" (Gen
2,17)
35. Im Buch Genesis lesen wir: "Gott der Herr gebot dem
Menschen: Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen, doch vom Baum der
Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn wenn du davon ißt, wirst
du sterben" (Gen 2,16-17).
Mit diesem Bild lehrt uns die Offenbarung, daß die Macht, über Gut und Böse
zu entscheiden, nicht dem Menschen, sondern allein Gott zusteht. Gewiß, der
Mensch ist von dem Augenblick an frei, in dem er die Gebote Gottes erkennen und
aufnehmen kann. Und er ist im Besitz einer sehr weitgehenden Freiheit, denn er
darf "von allen Bäumen des Gartens" essen. Aber es ist keine unbegrenzte
Freiheit: Sie muß vor dem "Baum der Erkenntnis von Gut und Böse" haltmachen, da
sie dazu berufen ist, das Sittengesetz, das Gott dem Menschen gibt, anzunehmen.
Tatsächlich findet gerade in dieser Annahme die Freiheit des Menschen ihre
wahre und volle Verwirklichung. Gott, der allein gut ist, erkennt genau, was für
den Menschen gut ist, und kraft seiner eigenen Liebe legt er ihm dies in den
Geboten vor.
Das Gesetz Gottes mindert also die Freiheit des Menschen nicht und noch
weniger schaltet es sie aus, im Gegenteil, es garantiert und fördert sie. Ganz
anders bilden jedoch manche der heutigen kulturellen Strömungen den
Ausgangspunkt zahlreicher Richtungen der Ethik, welche einen mutmaßlichen
Konflikt zwischen der Freiheit und dem Gesetz in den Mittelpunkt ihres Denkens
stellen. Solcher Art sind die Lehren, die den einzelnen oder sozialen Gruppen
die Fähigkeit und Befugnis zuschreiben, über Gut und Böse zu entscheiden: Die
menschliche Freiheit könnte "die Werte schaffen" und würde einen Primat über die
Wahrheit besitzen; ja, die Wahrheit würde sogar selbst als eine Schöpfung der
Freiheit angesehen. Somit würde diese also eine solche moralische Autonomie
beanspruchen, die praktisch ihre absolute Souveränität bedeuten würde.
36. Der moderne Autonomieanspruch hat natürlich seinen
Einfluß auch im Bereich der katholischen Moraltheologie ausgeübt. Auch wenn
diese sicher nie die menschliche Freiheit dem göttlichen Gesetz entgegensetzen
noch das Vorhandensein einer letzten religiösen Grundlage der sittlichen Normen
in Frage stellen wollte, wurde sie doch zu einem gründlichen Überdenken der
Rolle der Vernunft und des Glaubens bei der Begründung einzelner sittlicher
Normen herausgefordert, die sich auf bestimmte "innerweltliche" Verhaltensweisen
gegenüber sich selbst, gegenüber den anderen und gegenüber der Sachwelt (Welt
der Dinge) beziehen.
Man muß anerkennen, daß am Beginn dieses Bemühens um Neubesinnung einige
berechtigte Anliegen stehen, die allerdings zu einem guten Teil zur besten
Tradition katholischen Denkens gehören. Vom II. Vatikanischen Konzil gedrängt,60 wollte
man den Dialog mit der modernen Kultur dadurch fördern, daß man den rationalen -
und damit universal verständlichen und mitteilbaren - Charakter der dem Bereich
des natürlichen Moralgesetzes zugehörigen sittlichen Normen an den Tag legte.61 Darüber
hinaus wollte man den innerlichen Charakter sittlicher Forderungen bekräftigen,
die aus dem natürlichen Sittengesetz hervorgehen und sich dem Willen nur kraft
ihrer vorhergehenden Anerkennung durch die menschliche Vernunft und, konkret,
das persönliche Gewissen als Verpflichtung auferlegen.
Indem jedoch die Abhängigkeit der menschlichen Vernunft von der göttlichen
Weisheit und - im gegenwärtigen Zustand der gefallenen Natur - die Notwendigkeit
und Tatsächlichkeit der göttlichen Offenbarung für die Kenntnis auch natürlicher
sittlicher Wahrheiten 62
in Vergessenheit gerieten, sind einige zu der Theorie einer vollständigen
Souveränität der Vernunft im Bereich der sittlichen Normen gelangt, die sich auf
die richtige Ordnung des Lebens in dieser Welt beziehen: Diese Normen stellten
den Bereich einer rein "menschlichen" Moral dar, das heißt, sie wären Ausdruck
eines Gesetzes, das der Mensch sich autonom selbst gibt und das seine Quelle
ausschließlich in der menschlichen Vernunft hat. Als Urheber dieses Gesetzes
könnte keinesfalls Gott angesehen werden, außer in dem Sinne, daß die
menschliche Vernunft ihre Gesetzgebungsautonomie aufgrund einer ursprünglichen
Gesamtermächtigung Gottes an den Menschen ausübt. Diese angestrebten
Überlegungen haben nun dazu geführt, gegen die Heilige Schrift und die
feststehende Lehre der Kirche zu leugnen, daß das natürliche Sittengesetz Gott
als seinen Urheber hat und daß der Mensch durch seine Vernunft an dem ewigen
Gesetz teilhat, dessen Festlegung nicht ihm zusteht.
37. Da man jedoch das sittliche Leben in einem christlichen
Rahmen erhalten wollte, wurde von einigen Moraltheologen eine scharfe, der
katholischen Lehre widersprechende63
Unterscheidung eingeführt zwischen einer sittlichen Ordnung, die menschlichen
Ursprungs sei und nur innerweltlichen Wert habe, und einer Heilsordnung, für die
nur bestimmte Absichten und innere Haltungen im Hinblick auf Gott und den
Nächsten Bedeutung hätten. Folglich gelangte man dahin, das Vorhandensein eines
spezifischen und konkreten, universal gültigen und bleibenden sittlichen
Gehaltes der göttlichen Offenbarung zu leugnen: Das heute bindende Wort Gottes
würde sich darauf beschränken, eine Ermahnung, eine allgemeine "Paränese"
anzubieten; sie mit wahrhaft öbjektiven", d.h. an die konkrete geschichtliche
Situation angepaßten, normativen Bestimmungen aufzufüllen, wäre dann allein
Aufgabe der autonomen Vernunft. Eine derart verstandene Autonomie führt
natürlich auch dazu, daß eine spezifische Kompetenz der Kirche und ihres
Lehramtes hinsichtlich bestimmter, das sogenannte "Humanum" betreffender
sittlicher Normen geleugnet wird: Sie gehörten nicht zum eigentlichen Inhalt der
Offenbarung und wären, als solche, im Hinblick auf das Heil nicht von Bedeutung.
Eine solche Auslegung der Autonomie der menschlichen Vernunft führt, wie
jeder sieht, zu Thesen, die mit der katholischen Lehre unvereinbar sind.
In einem solchen Zusammenhang müssen unbedingt die Grundbegriffe der
menschlichen Freiheit und des Moralgesetzes sowie ihre tiefen, inneren
Beziehungen im Lichte des Wortes Gottes und der lebendigen Überlieferung der
Kirche geklärt werden. Nur so wird es möglich sein, den berechtigten Ansprüchen
menschlicher Vernunft dadurch zu entsprechen, daß man die gültigen Elemente
einiger Strömungen der heutigen Moraltheologie integriert, ohne das moralische
Erbgut der Kirche durch Thesen zu beeinträchtigen, die aus einem falschen
Autonomiebegriff herrühren.
Gott wollte den Menschen "der Macht der eigenen Entscheidung überlassen" (Sir
15,14)
38. Mit den Worten aus dem Buch Jesus Sirach erklärt das
II. Vatikanische Konzil die "wahre Freiheit", die ein "erhabenes Kennzeichen des
Bildes Gottes" im Menschen ist: "Gott wollte nämlich den Menschen ,der Macht der
eigenen Entscheidung überlassen', so daß er seinen Schöpfer aus eigenem
Entscheid suche und frei zur vollen und seligen Vollendung in Einheit mit Gott
gelange".64 Diese
Worte weisen auf die wunderbare Tiefe der Teilhabe an der göttlichen Herrschaft
hin, zu welcher der Mensch berufen ist: Sie deuten an, daß die Herrschaft des
Menschen in gewissem Sinne über den Menschen selbst hinausreicht. Das ist ein
Gesichtspunkt, der in der theologischen Reflexion über die als eine Art von
Königtum ausgelegte menschliche Freiheit stets hervorgehoben wird. So schreibt
z.B. der hl. Gregor von Nyssa: "Der Geist offenbart sein Königtum und seine
Vortrefflichkeit... darin, daß er herrenlos und frei ist, sich mit seinem Willen
autokratisch zu regieren. Wem anders ziemt das als einem König? ... So wurde die
menschliche Natur, die geschaffen worden ist, Herrin über die anderen Geschöpfe
zu sein, durch die Ähnlichkeit mit dem Herrn des Universums zu einem lebendigen
Bild bestimmt, das an der Würde und dem Namen des Urbildes teilhat".65
Schon das Regieren der Welt stellt für den Menschen eine große und
verantwortungsreiche Aufgabe dar, die seine Freiheit im Gehorsam gegenüber dem
Schöpfer in Anspruch nimmt: "Bevölkert die Erde und unterwerft sie euch" (Gen
1,28). Von diesem Gesichtspunkt aus steht dem einzelnen Menschen wie auch der
menschlichen Gemeinschaft eine gerechtfertigte Autonomie zu, der die
Konzilskonstitution Gaudium et spes besondere Aufmerksamkeit widmet. Es ist dies
die Autonomie der irdischen Wirklichkeiten, was bedeutet, daß "die geschaffenen
Dinge und auch die Gesellschaften ihre eigenen Gesetze und Werte haben, die der
Mensch schrittweise erkennen, gebrauchen und gestalten muß".66
39. Doch nicht nur die Welt, sondern auch der Mensch selbst
wurde seiner eigenen Sorge und Verantwortung anvertraut. Gott hat ihn "der Macht
der eigenen Entscheidung" überlassen (Sir 15,14), so daß er seinen Schöpfer
suche und aus freien Stücken zur Vollkommenheit gelange. Zur Vollkommenheit
gelangen heißt, persönlich in sich diese Vollkommenheit aufbauen. Denn wie der
Mensch, wenn er die Welt regiert, sie nach seinem Verstand und Willen gestaltet,
so bestätigt, entwickelt und festigt der Mensch in sich selbst die
Gottähnlichkeit, wenn er sittlich gute Handlungen vollzieht.
Das Konzil verlangt jedoch Wachsamkeit gegenüber einem falschen Begriff der
Autonomie der irdischen Wirklichkeiten, einem solchen nämlich, der meint, daß
"die geschaffenen Dinge nicht von Gott abhängen und der Mensch sie ohne Bezug
auf den Schöpfer gebrauchen könne". 67
Was den Menschen betrifft, so führt dann ein solcher Autonomiebegriff zu
besonders schädlichen Auswirkungen und nimmt schließlich atheistischen Charakter
an: "Denn das Geschöpf sinkt ohne den Schöpfer ins Nichts... überdies wird das
Geschöpf selbst durch das Vergessen Gottes unverständlich".68
40. Die Lehre des Konzils unterstreicht einerseits die
aktive Rolle der menschlichen Vernunft bei der Auffindung und Anwendung des
Sittengesetzes: Das sittliche Leben erfordert die Kreativität und den
Einfallsreichtum, die der Person eigen und Quelle und Grund ihres freien und
bewußten Handelns sind. Andererseits schöpft die Vernunft ihre Wahrheit und ihre
Autorität aus dem ewigen Gesetz, das nichts anderes als die göttliche Weisheit
ist.69
Dem sittlichen Leben liegt also das Prinzip einer "richtigen Autonomie" 70 des
Menschen als Person und Subjekt seiner Handlungen zugrunde. Das Sittengesetz
kommt von Gott und findet immer in ihm seine Quelle: Aufgrund der natürlichen
Vernunft, die aus der göttlichen Weisheit stammt, ist es zugleich das dem
Menschen eigene Gesetz. Das Naturgesetz ist nämlich, wie wir gesehen haben,
"nichts anderes als das von Gott uns eingegebene Licht des Verstandes. Dank
seiner wissen wir, was man tun und was man meiden soll. Dieses Licht und dieses
Gesetz hat uns Gott bei der Erschaffung geschenkt".71
Die richtige Autonomie der praktischen Vernunft bedeutet, daß der Mensch ein ihm
eigenes, vom Schöpfer empfangenes Gesetz als Eigenbesitz in sich trägt. Doch die
Autnomie der Vernunft kann nicht die Erschaffung der Werte und sittlichen Normen
durch die Vernunft bedeuten.72
Würde eine solche Autonomie die Leugnung der Teilhabe der praktischen Vernunft
an der Weisheit des göttlichen Schöpfers und Gesetzgebers einschließen oder
einer schöpferischen Freiheit das Wort reden, die je nach den historischen
Umständen oder der Verschiedenheit von Gesellschaften und Kulturen sittliche
Normen hervorbringt, dann stünde eine solchermaßen verfochtene Autonomie im
Gegensatz zur Lehre der Kirche über die Wahrheit vom Menschen.73
Sie wäre der Tod der wahren Freiheit: "Doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und
Böse sollst du nicht essen; denn wenn du davon ißt, wirst du sterben" (Gen
2,17).
41. Wahre sittliche Autonomie des Menschen bedeutet in der
Tat nicht Ablehnung, sondern nur Annahme des Sittengesetzes, des Gebotes Gottes:
"Gott der Herr gebot dem Menschen..." (Gen 2,16). Die Freiheit des Menschen und
das Gesetz Gottes begegnen einander und sind aufgerufen, sich im Sinne des
freien Gehorsams des Menschen gegenüber Gott und des unverdienten Wohlwollens
Gottes gegenüber dem Menschen gegenseitig zu durchdringen. Der Gehorsam Gott
gegenüber ist daher nicht, wie manche meinen, eine Heteronomie, so als wäre das
moralische Leben dem Willen einer absoluten Allmacht außerhalb des Menschen
unterworfen, die der Behauptung seiner Freiheit widerspricht. Wenn Heteronomie
der Moral tatsächlich Leugnung der Selbstbestimmung des Menschen oder
Auferlegung von Normen bedeutete, die mit seinem Wohl nichts zu tun haben, dann
stünde sie im Gegensatz zur Offenbarung des Bundes und der erlösenden
Menschwerdung Gottes. Eine solche Heteronomie wäre nur eine Form von
Entfremdung, die der göttlichen Weisheit und der Würde der menschlichen Person
widerspricht.
Manche sprechen mit Recht von Theonomie oder von partizipativer Theonomie,
weil der freie Gehorsam des Menschen dem Gesetz Gottes gegenüber in der Tat die
Teilhabe der menschlichen Vernunft und des menschlichen Willens an der Weisheit
und Vorsehung Gottes einschließt. Wenn Gott dem Menschen verbietet, "vom Baum
der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen", sagt er damit, daß der Mensch diese
"Erkenntnis" nicht als ursprünglichen Eigenbesitz in sich trägt, sondern nur
durch das Licht der natürlichen Vernunft und der göttlichen Offenbarung, die ihm
die Forderungen und Appelle der ewigen Weisheit kundtun, daran teilhat. Das
Gesetz muß also Ausdruck der göttlichen Weisheit genannt werden: Indem sich die
Freiheit ihm unterwirft, unterwirft sie sich der Wahrheit der Schöpfung. Darum
müssen wir in der Freiheit der menschlichen Person das Abbild und die Nähe
Gottes anerkennen, der "in allen gegenwärtig ist" (vgl. Eph 4,6); zugleich
müssen wir die Majestät des Gottes des Alls anerkennen und die Heiligkeit des
Gesetzes des unendlich transzendenten Gottes verehren. Deus semper maior.74
Wohl dem Mann, der Freude hat an der Weisung des Herrn
(vgl. Ps 1,1-2)
42. Die der Freiheit Gottes nachgebildete Freiheit des
Menschen wird durch dessen Gehorsam gegenüber dem Gesetz Gottes nicht nur nicht
verneint, sondern vielmehr bleibt sie erst durch diesen Gehorsam in der Wahrheit
und entspricht der Würde des Menschen, wie das Konzil offen schreibt: "Die Würde
des Menschen verlangt, daß er in bewußter und freier Wahl handle, das heißt
personal, von innen her bewegt und geführt und nicht unter blindem innerem Drang
oder unter bloßem äußerem Zwang. Eine solche Würde erwirbt der Mensch, wenn er
sich aus aller Knechtschaft der Leidenschaften befreit und sein Ziel in freier
Wahl des Guten verfolgt sowie sich die geeigneten Hilfsmittel wirksam und in
angestrengtem Bemühen verschafft". 75
In seinem Streben nach Gott, dem, der "allein gut ist", muß der Mensch in
freier Entscheidung das Gute tun und das Böse meiden. Aber dazu muß der Mensch
das Gute vom Bösen unterscheiden können. Und das erfolgt vor allem dank des
Lichtes der natürlichen Vernunft, Widerschein des Glanzes von Gottes Angesicht
im Menschen. In diesem Sinne schreibt der hl. Thomas, einen Vers des 4. Psalms
kommentierend: "Nachdem der Psalmist gesagt hat: Bringt rechte Opfer dar! (Ps
4,6), als ob ihn Leute nach den Werken der Gerechtigkeit gefragt hätten, fügt er
hinzu: Viele sagen: ,Wer macht uns das Gute sehen?' Und als Antwort auf die
Frage sagt er: Herr, laß dein Angesicht über uns leuchten! Als wollte er sagen,
daß das Licht der natürlichen Vernunft, mit der wir das Gute vom Bösen
unterscheiden - wofür das Naturgesetz zuständig ist -, nichts anderes als ein
Abdruck des göttlichen Lichtes in uns ist".76
Daraus folgt auch, warum dieses Gesetz Naturgesetz genannt wird: Es wird so
genannt nicht im Blick auf die Natur der vernunftlosen Wesen, sondern weil die
Vernunft, die dieses Gesetz erläßt, zur menschlichen Natur gehört.77
43. Das II. Vatikanische Konzil erinnert daran, daß "die
höchste Norm des menschlichen Lebens das göttliche Gesetz selber ist, das ewige,
objektive und universale, durch das Gott nach dem Ratschluß seiner Weisheit und
Liebe die ganze Welt und die Wege der Menschengemeinschaft ordnet, leitet und
regiert. Gott macht den Menschen seines Gesetzes teilhaftig, so daß der Mensch
unter der sanften Führung der göttlichen Vorsehung die unveränderliche Wahrheit
mehr und mehr zu erkennen vermag".78
Das Konzil verweist auf die klassische Lehre über das ewige Gesetz Gottes.
Der hl. Augustinus definiert es als "die Vernunft oder den Willen Gottes, der
gebietet, die natürliche Ordnung zu beachten, und verbietet, sie zu stören";79 der hl.
Thomas identifiziert es mit dem "Plan der göttlichen Weisheit, die alles auf das
gebotene Ziel hin bewegt".80
Und die Weisheit Gottes ist Vorsorge, sorgende Liebe. Es ist also Gott selber,
der die ganze Schöpfung liebt und im wörtlichsten, grundlegendsten Sinn für sie
sorgt (vgl. Weish 7,22; 8,11). Aber Gott sorgt für die Menschen anders als für
die Wesen, die keine Personen sind: nicht "von außen", durch die Gesetze der
physischen Natur, sondern "von innen", durch die Vernunft, die, wenn sie mit
Hilfe des natürlichen Lichtes das ewige Gesetz Gottes erkennt, dadurch imstande
ist, dem Menschen die rechte Richtung seines freien Handelns zu weisen.81
Auf diese Weise beruft Gott den Menschen zur Teilhabe an seiner Vorsehung, denn
er will die Welt mit Hilfe des Menschen selber, das heißt durch seine
vernünftige und verantwortliche Sorge, leiten: nicht nur die Welt der Natur,
sondern auch die Welt der menschlichen Personen. In diesem Zusammenhang steht
das Naturgesetz, menschlicher Ausdruck des ewigen Gesetzes Gottes: "Im Vergleich
zu den anderen Kreaturen - schreibt der hl. Thomas - ist das vernunftbegabte
Geschöpf in vortrefflicher Weise der göttlichen Vorsehung unterworfen, weil es
seinerseits dadurch an der Vorsehung teilhat, daß es für sich und die anderen
vorsieht: darum gibt es bei ihm Teilhabe an der ewigen Vernunft, dank welcher es
eine natürliche Neigung zur sittlich gebotenen Handlung und zum gebotenen Ziel
hat: Diese Teilhabe des ewigen Gesetzes im vernunftbegabten Geschöpf wird
Naturgesetz genannt".82
44. Die Kirche hat sich oft auf die thomistische Lehre vom
Naturgesetz berufen und sie in ihre Moralverkündigung aufgenommen. So hat mein
ehrwürdiger Vorgänger Leo XIII. die wesenhafte Unterordnung der menschlichen
Vernunft und des menschlichen Gesetzes unter Gottes Weisheit und Gesetz
hervorgehoben. Nachdem er ausgeführt hat, daß "das Naturgesetz in die Herzen der
einzelnen Menschen geschrieben und eingemeißelt ist, da es nichts anderes ist
als die menschliche Vernunft selber, insofern sie uns gebietet, das Gute zu tun,
und uns zu sündigen verbietet", verweist Leo XIII. auf die "höhere Vernunft" des
göttlichen Gesetzgebers: Äber diese Anordnung der menschlichen Vernunft hätte
nicht Gesetzeskraft, wenn sie nicht Stimme und Auslegerin einer höheren Vernunft
wäre, der sich unser Geist und unsere Freiheit unterwerfen müssen". Die Kraft
des Gesetzes beruht in der Tat auf seiner Autorität, Verpflichtungen
aufzuerlegen, Rechte zu verleihen und gewisse Verhaltensweisen mit Lohn oder
Strafe zu belegen: "Das alles könnte sich im Menschen nicht finden, würde er
selbst als oberster Gesetzgeber sich die Norm für seine Handlungen geben". Und
er sagt abschließend: "Daraus folgt, daß das Naturgesetz das ewige Gesetz selbst
ist, das denen eingepflanzt ist, die die Vernunft gebrauchen, und sie auf das
gebührende Tun und Ziel hinlenkt; es ist dies die ewige Vernunft des Schöpfers
selbst und des die ganze Welt regierenden Gottes".83
Der Mensch kann das Gute und das Böse erkennen dank jener Unterscheidung von
Gut und Böse, die er selbst mit Hilfe seiner Vernunft vornimmt, besonders der
von der göttlichen Offenbarung und vom Glauben erleuchteten Vernunft, kraft des
Gesetzes, das Gott dem auserwählten Volk angefangen von den Geboten vom Sinai
geschenkt hat. Israel war dazu berufen, das Gesetz Gottes als besonderes
Geschenk und Zeichen der Erwählung und des göttlichen Bundes und zugleich als
Gewähr für den Segen Gottes zu empfangen und zu leben. So konnte sich Mose an
die Söhne Israels wenden und sie fragen: "Denn welche große Nation hätte Götter,
die ihr so nah sind, wie Jahwe, unser Gott, uns nah ist, wo immer wir ihn
anrufen? Oder welche große Nation besäße Gesetze und Rechtsnormen, die so
sachgemäß sind wie alles in dieser Weisung, die ich euch heute vorlege?" (Dtn
4,7-8). In den Psalmen begegnen wir den Gefühlen des Lobes, der Dankbarkeit und
Verehrung, die das auserwählte Volk gegenüber dem Gesetz Gottes hegen soll, und
wir begegnen der Ermahnung, das Gesetz kennenzulernen, darüber nachzudenken und
es ins Leben zu übersetzen: "Wohl dem Mann, der nicht dem Rat der Frevler folgt,
nicht auf dem Weg der Sünder geht, nicht im Kreis der Spötter sitzt, sondern
Freude hat an der Weisung des Herrn, über seine Weisung nachsinnt bei Tag und
Nacht" (Ps 1,1-2). "Die Weisung des Herrn ist vollkommen, sie erquickt den
Menschen. Das Gesetz des Herrn ist verläßlich, den Unwissenden macht es weise.
Die Befehle des Herrn sind richtig, sie erfreuen das Herz; das Gebot des Herrn
ist lauter, es erleuchtet die Augen" (Ps 19,8-9).
45. Die Kirche empfängt mit Dankbarkeit das Gesamtgut der
Offenbarung und hütet es mit Liebe, indem sie es mit religiöser Achtung
behandelt und durch die authentische Auslegung des Gesetzes Gottes im Lichte des
Evangeliums ihre Sendung erfüllt. Darüber hinaus empfängt die Kirche als
Geschenk das neue Gesetz, das die "Vollendung" des Gesetzes Gottes in Jesus
Christus und in seinem Geist ist: Es ist ein "innerliches" Gesetz (vgl. Jer
31,31-33), "geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen
Gottes, nicht auf Tafeln aus Stein, sondern - wie auf Tafeln - in Herzen von
Fleisch" (2 Kor 3,3); ein Gesetz der Vollkommenheit und der Freiheit (vgl. 2 Kor
3,17); es ist "das Gesetz des Geistes und des Lebens in Christus Jesus" (Röm
8,2). Von diesem Gesetz schreibt der hl. Thomas: "Dieses kann in einem doppelten
Sinn Gesetz genannt werden. Zum ersten ist Gesetz des Geistes der Heilige
Geist..., der, während er in der Seele Wohnung nimmt, nicht nur durch die
Erleuchtung des Verstandes hinsichtlich des zu Tuenden belehrt, sondern auch
geneigt macht, mit rechter Absicht zu handeln. ... In einem zweiten Sinn kann
das Gesetz des Geistes die eigentliche Wirkung des Heiligen Geistes genannt
werden, das heißt der Glaube, der in der Liebe wirksam ist (Gal 5,6); es
belehrt uns also innerlich darüber, was zu tun ist ... und macht uns darin im
Herzen geneigt".84
Auch wenn es bei der moraltheologischen Reflexion üblich ist, das positive
oder geoffenbarte Gesetz Gottes vom Naturgesetz und im Heilsplan das älte"
Gesetz vom "neuen" Gesetz zu unterscheiden, darf man nicht vergessen, daß sich
diese und andere nützliche Unterscheidungen stets auf das Gesetz beziehen,
dessen Urheber ein und derselbe Gott ist, so wie der Empfänger dieses Gesetzes
der Mensch ist. Die verschiedenen Weisen, wie Gott sich in der Geschichte der
Welt und des Menschen annimmt, schließen nicht nur einander nicht aus, sondern
im Gegenteil, sie stützen und durchdringen sich gegenseitig. Sie alle haben ihre
Quelle und ihr Endziel in dem weisen und liebevollen ewigen Plan, mit dem Gott
die Menschen im voraus dazu bestimmt, än Wesen und Gestalt seines Sohnes
teilzuhaben" (Röm 8,29). In diesem Plan liegt keinerlei Bedrohung für die wahre
Freiheit des Menschen; im Gegenteil, die Annahme dieses Planes ist der einzige
Weg zur Bejahung der Freiheit.
"Die Forderung des Gesetzes ist ihnen ins Herz geschrieben" (Röm 2,15)
46. Ein vermutlicher Konflikt zwischen Freiheit und Gesetz
stellt sich heute aufs neue mit außergewöhnlicher Wucht im Hinblick auf das
Naturgesetz und besonders im Hinblick auf die Natur. In Wirklichkeit haben die
Debatten über Natur und Freiheit die Geschichte der moralischen Reflexion immer
begleitet; mit Renaissance und Reformation haben sich diese Debatten zugespitzt,
wie man aus den Lehren des Konzils von Trient ersehen kann.85
Von ähnlicher Spannung ist, wenn auch in einem anderen Sinn, die Gegenwart
gezeichnet: Die Vorliebe für die empirische Beobachtung, die Verfahren
wissenschaftlicher Verobjektivierung, der technische Fortschritt, gewisse Formen
von Liberalismus haben die zwei Begriffe einander gegenübergestellt, als wäre
die Dialektik - wenn nicht gar der Konflikt - zwischen Freiheit und Natur ein
Strukturmerkmal der menschlichen Geschichte. Zu anderen Zeiten schien die
"Natur" den Menschen vollständig ihren Dynamismen zu unterwerfen, ja selbst ihn
zu determinieren. Heute noch scheinen vielen die räumlich-zeitlichen Koordinaten
der sinnlich wahrnehmbaren Welt, die physisch-chemischen Konstanten, die
körperlichen und seelischen Triebkräfte und die gesellschaftlichen Zwänge die
einzigen wirklich entscheidenden Faktoren der menschlichen Wirklichkeit zu sein.
In diesem Zusammenhang werden auch die sittlichen Tatsachen, trotz ihres
eigentümlichen Charakters, oft wie statistisch erfaßbare Daten, beobachtbares
Verhalten oder nur mit den Kategorien psychisch-sozialer Mechanismen erklärbar
behandelt. Und so können manche Ethiker, die von Berufs wegen sich der
Untersuchung der Handlungen und Haltungen des Menschen zu widmen haben, versucht
sein, ihr Wissen, ja sogar ihre Verordnungen, an einer statistischen
Aufarbeitung des konkreten menschlichen Verhaltens und an den Meinungen der
Mehrheit in sittlichen Fragen zu messen.
Im Gegensatz dazu behalten andere Moraltheologen, auf Werteerziehung bedacht,
eine Sensibilität, die Freiheit in Ehren zu halten, verstehen sie aber oft in
Widerspruch oder Gegensatz zur materiellen und biologischen Natur, der gegenüber
sie sich Schritt für Schritt zu behaupten hätte. Dabei treffen sich verschiedene
Auffassungen darin, daß sie die kreatürliche Dimension der Natur vergessen und
in ihrer Integrität verkennen. Für einige ist die Natur nur noch zum Rohmaterial
für das menschliche Handeln und Können verkürzt: Sie müßte von der Freiheit von
Grund auf umgeformt, ja überwunden werden, da sie Begrenzung und Verneinung der
Freiheit darstellte. Für andere entstünden im maßlosen Steigern der Macht des
Menschen bzw. der Ausweitung seiner Freiheit die ökonomischen,
gesellschaftlichen, kulturellen und auch sittlichen Werte: Natur würde all das
bedeuten, was im Menschen und in der Welt außerhalb der Freiheit angesiedelt
ist. Diese Natur enthielte an erster Stelle den menschlichen Leib, seine
Verfassung und seine Triebkräfte: Im Gegensatz zu dieser physischen Gegebenheit
stünde alles "Konstruierte", also die "Kultur" als Werk und Produkt der
Freiheit. Die so verstandene menschliche Natur könnte reduziert und wie ein
dauernd zur Verfügung stehendes biologisches oder gesellschaftliches Material
behandelt werden. Das bedeutet letzten Endes, die Freiheit durch sich selbst zu
bestimmen und sie zu einer schöpferischen Instanz ihrer selbst und ihrer Werte
zu machen. Auf diese Weise hätte der Mensch letztlich nicht einmal eine Natur;
er wäre an und für sich sein eigenes Daseinsprojekt. Der Mensch wäre nichts
weiter als seine Freiheit!
47. In diesem Zusammenhang wurde gegen die traditionelle
Auffassung vom Naturgesetz der Einwand des Physizismus und Naturalismus
erhoben: Diese Auffassung würde als sittliche Gesetze behandeln, was an sich
nur biologische Gesetze wären. So hätte man allzu oberflächlich manchen
menschlichen Verhaltensweisen einen bleibenden, unveränderlichen Wert
zugesprochen und sich angemaßt, auf dieser Grundlage allgemein gültige sittliche
Normen zu formulieren. Nach Ansicht mancher Theologen würde eine solche
"biologistische oder naturalistische Beweisführung" auch in einigen Dokumenten
des Lehramtes der Kirche vertreten, besonders in denen, die den Bereich der
Sexualethik und Ehemoral betreffen. Aufgrund einer naturalistischen Auffassung
des Sexualaktes wären Empfängnisverhütung, direkte Sterilisierung, Autoerotik,
voreheliche Beziehungen, homosexuelle Beziehungen sowie künstliche Befruchtung
als sittlich unzulässig verurteilt worden. Doch nach Meinung dieser Theologen
berücksichtigt eine moralisch negative Bewertung solcher Handlungsweisen weder
den Menschen als vernünftiges und freies Wesen noch die kulturelle Bedingtheit
jeder sittlichen Norm auf angemessene Weise. Der Mensch als vernunftbegabtes
Wesen könne nicht nur, sondern müsse geradezu frei den Sinn seines Verhaltens
selbst bestimmen. Dieses "den Sinn bestimmen" werde natürlich die vielfältigen
Grenzen des Menschen in seinem leiblichen und geschichtlichen Daseinszustand
berücksichtigen müssen. Es werde außerdem die Verhaltensmodelle und die
Bedeutungen, die diese in einer bestimmten Kultur annehmen, zu beachten haben.
Und vor allem wird es das grundlegende Gebot der Gottes- und der Nächstenliebe
respektieren. Gott jedoch - so behauptet man dann - hat den Menschen als freies
Vernunftwesen geschaffen, er hat ihn "der Macht der eigenen Entscheidung"
überlassen und erwartet von ihm eine eigenständige, vernünftige Gestaltung
seines Lebens. Die Liebe zum Nächsten würde vor allem und ausschließlich Achtung
vor seiner freien Selbstentscheidung bedeuten. Die Mechanismen der dem Menschen
eigentümlichen Verhaltensweisen sowie die sogenannten "natürlichen Neigungen"
würden - wie es heißt - höchstens eine allgemeine Orientierung für richtiges
Verhalten festlegen, sie könnten aber nicht über die sittliche Bewertung der
einzelnen, hinsichtlich der jeweiligen Situation sehr komplexen menschlichen
Handlungen entscheiden.
48. Angesichts einer solchen Interpretation muß die wahre,
zwischen Freiheit und menschlicher Natur bestehende Beziehung aufs neue
aufmerksam bedacht werden, insbesondere welchen Platz der menschliche Leib in
den auf das Naturgesetz sich beziehenden Fragen einnimmt.
Eine Freiheit, die den Anspruch auf Absolutheit erhebt, behandelt schließlich
den menschlichen Leib wie Rohmaterial, bar jeglichen Sinnes und moralischen
Wertes, solange die Freiheit es nicht in ihr Projekt eingebracht hat. Die
menschliche Natur und der Leib erscheinen folglich als für die Wahlakte der
Freiheit materiell notwendige, aber der Person, dem menschlichen Subjekt und der
menschlichen Handlung äußerliche Voraussetzungen oder Bedingtheiten. Ihre
Dynamismen könnten nicht Bezugspunkte für die sittliche Entscheidung darstellen,
da der Endzweck dieser Neigungen nur "physische" Güter wären, von einigen
"vor-sittliche" Güter genannt. Wer sich auf sie bezöge, um in ihnen nach einer
Vernunftorientierung für die sittliche Ordnung zu suchen, müßte des Physizismus
oder des Biologismus bezichtigt werden. Unter solchen Voraussetzungen läuft die
Spannung zwischen der Freiheit und einer reduktionistisch verstandenen Natur auf
eine Spaltung im Menschen selbst hinaus.
Diese moralische Theorie entspricht nicht der Wahrheit über den Menschen und
seiner Freiheit. Sie widerspricht den Lehren der Kirche über die Einheit des
menschlichen Seins, dessen vernunftbegabte Seele per se et essentialiter Form
des Leibes ist.86
Die geistige und unsterbliche Seele ist das einheitsstiftende Prinzip des
menschlichen Seins; sie ist es, wodurch dieses - als Person - ein Ganzes -
corpore et anima unus87
- ist. Diese Definitionen weisen nicht nur darauf hin, daß auch der Leib, dem
die Auferstehung verheißen ist, an der Herrlichkeit teilhaben wird; sie erinnern
ebenso an die Einbindung von Vernunft und freiem Willen in alle leiblichen und
sinnlichen Kräfte. Die menschliche Person ist, einschließlich des Leibes, ganz
sich selbst überantwortet und gerade in der Einheit von Seele und Leib ist sie
das Subjekt ihrer sittlichen Akte. Durch das Licht der Vernunft und die
Unterstützung der Tugend entdeckt die menschliche Person in ihrem Leib die
vorwegnehmenden Zeichen, den Ausdruck und das Versprechen der Selbsthingabe in
Übereinstimmung mit dem weisen Plan des Schöpfers. Im Lichte der Würde der
menschlichen Person - die durch sich selbst bestätigt werden muß - erfaßt die
Vernunft den besonderen sittlichen Wert einiger Güter, denen die menschliche
Person von Natur her zuneigt. Und da die menschliche Person sich nicht auf ein
Projekt der eigenen Freiheit reduzieren läßt, sondern eine bestimmte geistige
und leibliche Struktur umfaßt, schließt die ursprüngliche sittliche Forderung,
die Person als ein Endziel und niemals als bloßes Mittel zu lieben und zu
achten, wesentlich auch die Achtung einiger Grundgüter ein, ohne deren
Respektierung man dem Relativismus und der Willkür verfällt.
49. Eine Lehre, welche die sittliche Handlung von den
leiblichen Dimensionen ihrer Ausführung trennt, steht im Gegensatz zur Lehre der
Heiligen Schrift und der Überlieferung: Eine solche Lehre läßt in neuer Form
gewisse alte, von der Kirche stets bekämpfte Irrtümer wiederaufleben, die die
menschliche Person auf eine "geistige", rein formale Freiheit reduzieren. Diese
Verkürzung verkennt die sittliche Bedeutung des Leibes und der sich auf ihn
beziehenden Verhaltensweisen (vgl. 1 Kor 6,19). Der Apostel Paulus erklärt
Unzüchtige, Götzendiener, Ehebrecher, Lustknaben, Knabenschänder, Diebe,
Habgierige, Trinker, Lästerer und Räuber" für ausgeschlossen vom Gottesreich
(vgl. 1 Kor 6,9-10). Diese Verdammung - die vom Konzil von Trient aufgegriffen
wurde88 -
zählt als "Todsünden" oder "infame Praktiken" einige spezifische
Verhaltensweisen auf, deren willentliche Annahme die Gläubigen daran hindert, am
verheißenen Erbe teilzuhaben. Tatsächlich sind Leib und Seele untrennbar: in der
menschlichen Person, im willentlich Handelnden und seinem frei überlegten Tun
halten sie sich miteinander oder gehen miteinander unter.
50. Man kann nun die wahre Bedeutung des Naturgesetzes
verstehen: Es bezieht sich auf die eigentliche und ursprüngliche Natur des
Menschen, auf die "Natur der menschlichen Person",89
die die Person selbst in der Einheit von Seele und Leib ist, in der Einheit
ihrer sowohl geistigen wie biologischen Neigungen und aller anderen
spezifischen Merkmale, die für die Erreichung ihres Endzieles notwendig sind.
"Das natürliche Sittengesetz drückt aus und schreibt vor die Zielsetzungen,
Rechte und Pflichten, die sich auf die leibliche und geistige Natur der
menschlichen Person gründen. Es kann deshalb nicht als bloß biologisch
maßgebend verstanden werden, sondern muß als die Vernunftordnung definiert
werden, gemäß welcher der Mensch vom Schöpfer dazu berufen ist, sein Leben und
seine Handlungen zu lenken und zu regeln und im besonderen von seinem Leib
Gebrauch zu machen und über ihn zu verfügen".90
Zum Beispiel finden sich Ursprung und Fundament der Verpflichtung, zur absoluten
Achtung des menschlichen Lebens in der der menschlichen Person eigenen Würde und
nicht bloß in der natürlichen Neigung, sein physisches Leben zu erhalten. So
gewinnt das menschliche Leben, das ein fundamentales Gut des Menschen ist,
sittliche Bedeutung im Blick auf das Wohl der Person, das stets um seiner selbst
willen geltend gemacht werden muß: Während es moralisch immer unerlaubt ist,
einen unschuldigen Menschen zu töten, kann es gestattet, lobenswert und sogar
geboten sein, aus Nächstenliebe oder als Zeugnis für die Wahrheit das eigene
Leben hinzugeben (vgl. Joh 15,13). In Wirklichkeit kann man nur in bezug auf die
menschliche Person in ihrer "geeinten Ganzheit", das heißt äls Seele, die sich
im Leib ausdrückt, und als Leib, der von einem unsterblichen Geist durchlebt
wird",91
die spezifisch menschliche Bedeutung des Leibes erfassen. Tatsächlich gewinnen
die natürlichen Neigungen nur insofern sittliche Bedeutung, als sie sich auf die
menschliche Person und ihre authentische Verwirklichung beziehen, die
andererseits immer und nur im Rahmen der menschlichen Natur zustande kommen
kann. Wenn die Kirche Manipulationen der Leiblichkeit, die deren menschliche
Bedeutung verfälschen, zurückweist, dient sie dem Menschen und zeigt ihm den Weg
der wahren Liebe, auf dem allein er den wahren Gott zu finden vermag.
Das so verstandene Naturgesetz läßt keinen Raum für eine Trennung von
Freiheit und Natur: Sie sind tatsächlich harmonisch miteinander verknüpft und
sind einander zutiefst verbunden.
"Am Anfang war das nicht so" (Mt 19,8)
51. Der vermutete Konflikt zwischen Freiheit und Natur
wirkt sich auch auf die Interpretation einiger besonderer Aspekte des
Naturgesetzes aus, vor allem auf seine Universalität und Unveränderlichkeit. "Wo
also sind diese Regeln aufgeschrieben - fragte sich der hl. Augustinus - ...
wenn nicht in dem Buch von jenem Licht, das sich Wahrheit nennt? Von da wird
also jedes rechte Gesetz diktiert und überträgt sich ins Herz des Menschen, der
die Gerechtigkeit wirkt, wobei es ihn nicht wieder verläßt, sondern sich ihm
gleichsam einprägt, wie sich das Bild vom Ring in das Wachs einprägt, ohne aber
den Ring zu verlassen".92
Dank dieser "Wahrheit" schließt das Naturgesetz Universalität ein. Da es
eingeschrieben ist in die Vernunftnatur der menschlichen Person, ist es jedem
vernunftbegabten und in der Geschichte lebenden Geschöpf auferlegt. Um sich in
seiner spezifischen Ordnung zu vervollkommnen, muß der Mensch das Gute tun und
das Böse unterlassen, über die Weitergabe und Erhaltung des Lebens wachen, die
Reichtümer der sinnenhaften Welt verfeinern und entfalten, das gesellschaftliche
Leben pflegen, die Wahrheit suchen, das Gute tun, die Schönheit betrachten.93
Der Graben, den einige zwischen der Freiheit der Individuen und der allen
gemeinsamen Natur aufgerissen haben, verschleiert die Erfahrung der
Universalität des Sittengesetzes durch die Vernunft, wie dies aus manchen
philosophischen Theorien, die in der modernen Kultur großen Widerhall gefunden
haben, hervorgeht. Insofern aber das Naturgesetz die Würde der menschlichen
Person zum Ausdruck bringt und die Grundlage für ihre fundamentalen Rechte und
Pflichten legt, ist es in seinen Geboten universal, und seine Autorität
erstreckt sich auf alle Menschen. Diese Universalität sieht nicht von der
Einzigartigkeit der Menschen ab, noch widerspricht sie der Einmaligkeit und
Unwiederholbarkeit jeder einzelnen menschlichen Person: Sie umfaßt im Gegenteil
grundlegend jede ihrer freien Handlungen, die die Universalität des wahren Guten
bezeugen müssen. Indem sie sich dem gemeinsamen Gesetz unterwerfen, bauen
unsere Handlungen die wahre Gemeinschaft der Personen auf und verwirklichen mit
der Gnade Gottes die Liebe, "das Band, das alles zusammenhält und vollkommen
macht" (Kol 3,14). Wenn sie hingegen das Gesetz verkennen oder, mit oder ohne
Schuld, auch nur darüber in Unkenntnis sind, so verletzen unsere Handlungen die
Gemeinschaft der Personen zum Schaden jedes einzelnen.
52. Es ist immer und für alle recht und gut, Gott zu
dienen, ihm die gebührende Verehrung zu erweisen und die Eltern zu ehren, wie es
sich ziemt. Solche positive Gebote, die anordnen, manche Handlungen zu
vollbringen und bestimmte Verhaltensweisen zu üben, verpflichten allgemein; sie
sind ünveränderlich";94
sie vereinigen in demselben gemeinsamen Gut alle Menschen aller Zeitalter der
Geschichte, die für "dieselbe Berufung und dieselbe göttliche Bestimmung"95
geschaffen sind. Diese universalen und bleibenden Gesetze entsprechen
Erkenntnissen der praktischen Vernunft und werden durch das Gewissensurteil auf
die einzelnen Handlungen angewandt. Das handelnde Subjekt eignet sich persönlich
die im Gesetz enthaltene Wahrheit an: Durch die Handlungen und die
entsprechenden Tugenden macht es sich diese Wahrheit seines Seins zu eigen. Die
negativen Gebote des Naturgesetzes sind allgemein gültig: sie verpflichten alle
und jeden einzelnen allezeit und unter allen Umständen. Es handelt sich in der
Tat um Verbote, die eine bestimmte Handlung semper et pro semper verbieten,
ohne Ausnahme, weil die Wahl der entsprechenden Verhaltensweise in keinem Fall
mit dem Gutsein des Willens der handelnden Person, mit ihrer Berufung zum Leben
mit Gott und zur Gemeinschaft mit dem Nächsten vereinbar ist. Es ist jedem und
allezeit verboten, Gebote zu übertreten, die es allen und um jeden Preis zur
Pflicht machen, in niemandem und vor allem nicht in sich selbst die persönliche
und allen gemeinsame Würde zu verletzen.
Auch wenn nur die negativen Gebote immer und unter allen Umständen
verpflichten, heißt das andererseits nicht, daß im sittlichen Leben die Verbote
wichtiger wären als das Bemühen, das von den positiven Geboten aufgezeigte Gute
zu tun. Der Grund ist vielmehr folgender: Das Gebot der Gottes- und der
Nächstenliebe hat in seiner Dynamik keine obere Grenze, wohl aber hat es eine
untere Grenze: unterschreitet man diese, verletzt man das Gebot. Zudem hängt
das, was man in einer bestimmten Situation tun soll, von den Umständen ab, die
sich nicht alle von vornherein schon voraussehen lassen; umgekehrt aber gibt es
Verhaltensweisen, die niemals, in keiner Situation, eine angemessene - das
heißt, der Würde der Person entsprechende - Lösung sein können. Schließlich ist
es immer möglich, daß der Mensch infolge von Zwang oder anderen Umständen daran
gehindert wird, bestimmte gute Handlungen zu Ende zu führen; niemals jedoch kann
er an der Unterlassung bestimmter Handlungen gehindert werden, vor allem, wenn
er bereit ist, lieber zu sterben als Böses zu tun.
Die Kirche hat immer gelehrt, daß Verhaltensweisen, die von den im Alten und
im Neuen Testament in negativer Form formulierten sittlichen Geboten untersagt
werden, nie gewählt werden dürfen. Wie wir gesehen haben, bestätigt Jesus selber
die Unumgänglichkeit dieser Verbote: "Wenn du das Leben erlangen willst, halte
die Gebote! ... Du sollst nicht töten, du sollst nicht die Ehe brechen, du
sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsch aussagen" (Mt 19,17-18).
53. Die große Sensibilität des heutigen Menschen für
Geschichtlichkeit und Kultur verleitet manche dazu, an der Unveränderlichkeit
des Naturgesetzes und damit am Bestehen öbjektiver Normen der Sittlichkeit"96 zu
zweifeln, die für alle Menschen der Gegenwart und der Zukunft gelten, wie sie
bereits für jene der Vergangenheit gegolten haben: Ist es überhaupt möglich, von
gewissen vernünftigen Bestimmungen, die einst in der Vergangenheit in Unkenntnis
des späteren Fortschritts der Menschheit festgelegt wurden, zu behaupten, sie
seien für alle von universaler und immerwährender Geltung?
Es ist nicht zu leugnen, daß sich der Mensch immer und in einer bestimmten
Kultur befindet, aber ebenso wenig läßt sich bestreiten, daß sich der Mensch in
dieser jeweiligen Kultur auch nicht erschöpft. Im übrigen beweist die
Kulturentwicklung selbst, daß es im Menschen etwas gibt, das alle Kulturen
transzendiert. Dieses "Etwas" ist eben die Natur des Menschen: Sie gerade ist
das Maß der Kultur und die Voraussetzung dafür, daß der Mensch nicht zum
Gefangenen irgendeiner seiner Kulturen wird, sondern seine Würde als Person
dadurch behauptet, daß er in Übereinstimmung mit der tiefen Wahrheit seines
Wesens lebt. Wer die bleibenden konstitutiven Strukturelemente des Menschen, die
auch mit seiner leiblichen Dimension zusammenhängen, in Frage stellte, befände
sich nicht nur im Konflikt mit der allgemeinen Erfahrung, sondern würde auch die
Bezugnahme auf den Änfang" unverständlich werden lassen, die Jesus eben dort
machte, wo die soziale und kulturelle Zeitsituation den ursprünglichen Sinn und
die Rolle einiger sittlicher Normen entstellt hatte (vgl. Mt 19,1-9). In diesem
Sinne "bekennt die Kirche, daß allen Wandlungen vieles Unwandelbare zugrunde
liegt, was seinen letzten Grund in Christus hat, der derselbe ist gestern, heute
und in Ewigkeit". 97
Er ist der Änfang", der, nachdem er die menschliche Natur angenommen hat, sie in
ihren Grundelementen und in ihrem Dynamismus der Gottes- und der Nächstenliebe
endgültig erleuchtet.98
Gewiß muß für die universal und beständig geltenden sittlichen Normen die den
verschiedenen kulturellen Verhältnissen angemessenste Formulierung gesucht und
gefunden werden, die imstande ist, die geschichtliche Aktualität dieser Normen
unablässig zum Ausdruck zu bringen und ihre Wahrheit verständlich zu machen und
authentisch auszulegen. Diese Wahrheit des Sittengesetzes entfaltet sich - wie
jene des Glaubensgutes ("depositum fidei") - über die Zeiten hinweg: Die Normen,
die Ausdruck dieser Wahrheit sind, bleiben im wesentlichen gülig, müssen aber
vom Lehramt der Kirche den jeweiligen historischen Umständen entsprechend "eodem
sensu eademque sententia"99
genauer gefaßt und bestimmt werden; die Entscheidung des Lehramtes wird
vorbereitet und begleitet durch das Bemühen um Verstehen und um Formulierung,
wie es der Vernunft der Gläubigen und der theologischen Reflexion eigen ist.100
II. Gewissen und Wahrheit
Das Heiligtum des Menschen
54. Die Beziehung zwischen der Freiheit des Menschen und
dem Gesetz Gottes hat ihren lebendigen Sitz im "Herzen" der menschlichen Person,
das heißt in ihrem sittlichen Gewissen: "Im Innern seines Gewissens - schreibt
das II. Vatikanische Konzil - entdeckt der Mensch ein Gesetz, das er sich nicht
selbst gibt, sondern dem er gehorchen muß und dessen Stimme ihn immer zur Liebe
und zum Tun des Guten und zur Unterlassung des Bösen anruft und, wo nötig, in
den Ohren des Herzens tönt: Tu dies, meide jenes. Denn der Mensch hat ein
Gesetz, das von Gott seinem Herzen eingeschrieben ist, dem zu gehorchen eben
seine Würde ist und gemäß dem er gerichtet werden wird (vgl. Röm 2,14-16)".
101
Darum steht die Art und Weise, wie man die Beziehung zwischen Freiheit und
Gesetz versteht, schließlich in engem Zusammenhang mit der Auffassung, die man
über das sittliche Gewissen hat. In diesem Sinne führen die oben erwähnten
kulturellen Strömungen, die Freiheit und Gesetz einander entgegensetzen und
voneinander trennen und die Freiheit in götzendienerischer Weise verherrlichen,
zu einer Auffassung vom sittlichen Gewissen als "schöpferische" Instanz, eine
Auffassung, die sich von der überlieferten Position der Kirche und ihres
Lehramtes entfernt.
55. Nach der Meinung verschiedener Theologen habe man,
zumindest in bestimmten Perioden der Vergangenheit, die Funktion des Gewissens
lediglich auf die Anwendung allgemeiner sittlicher Normen auf Einzelfälle des
persönlichen Lebens beschränkt gesehen. Solche Normen - heißt es - sind aber
nicht in der Lage, die unwiederholbare Besonderheit aller einzelnen konkreten
Akte der Personen in ihrer Gesamtheit zu umfassen und zu berücksichtigen; sie
können in gewisser Weise bei einer richtigen Bewertung der Situation behilflich
sein, sie können aber nicht an die Stelle der Personen treten und ihre Aufgabe
übernehmen, eine persönliche Entscheidung über ihr Verhalten in bestimmten
Einzelfällen zu treffen. Ja, die vorgenannte Kritik an der traditionellen
Interpretation der menschlichen Natur und ihrer Bedeutung für das sittliche
Leben verleitet einige Autoren zu der Behauptung, diese Normen seien nicht so
sehr ein bindendes objektives Kriterium für die Urteile des Gewissens, als
vielmehr eine allgemeine Orientierung, die in erster Linie dem Menschen hilft,
seinem persönlichen und sozialen Leben eine geregelte Ordnung zu geben. Darüber
hinaus enthüllen sie die dem Phänomen des Gewissens eigene Komplexität: Diese
steht in tiefem Zusammenhang mit dem gesamten psychologischen und affektiven
Bereich und mit den vielfältigen Einflüssen der gesellschaftlichen und
kulturellen Umgebung des Menschen. Andererseits wird der Wert des Gewissens
hochgepriesen, das vom Konzil als "Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit
Gott, dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist", 102
definiert wurde. Diese Stimme - so wird gesagt - veranlasse den Menschen nicht
so sehr zu einer peinlich genauen Beachtung der universalen Normen, als zu einer
kreativen und verantwortlichen Übernahme der persönlichen Aufgaben, die Gott ihm
anvertraut.
In dem Wunsch, den "kreativen" Charakter des Gewissens hervorzuheben,
bezeichnen manche Autoren die Akte des Gewissens nicht mehr als Ürteile",
sondern als "Entscheidungen": Nur dadurch, daß der Mensch äutonom" diese
Entscheidungen trifft, könne er zu seiner sittlichen Reife gelangen. Einige
vertreten auch die Ansicht, dieser Reifungsprozeß würde von der allzu
kategorischen Haltung behindert, die in vielen moralischen Fragen das Lehramt
der Kirche einnimmt, dessen Eingriffe bei den Gläubigen das Entstehen unnötiger
Gewissenskonflikte verursachen würden.
56. Zur Rechtfertigung solcher und ähnlicher Einstellungen
haben einige eine Art doppelter Seinsweise der sittlichen Wahrheit
vorgeschlagen. Außer der theoretisch-abstrakten Ebene müßte die Ursprünglichkeit
einer gewissen konkreteren existentiellen Betrachtungsweise anerkannt werden.
Diese könnte, indem sie den Umständen und der Situation Rechnung trägt,
legitimerweise Ausnahmen bezüglich der theoretischen Regel begründen und so
gestatten, in der Praxis guten Gewissens das zu tun, was vom Sittengesetz als
für in sich schlecht eingestuft wird. Auf diese Weise entsteht in einigen Fällen
eine Trennung oder auch ein Gegensatz zwischen der Lehre von der im allgemeinen
gültigen Vorschrift und der Norm des einzelnen Gewissens, das in der Tat letzten
Endes über Gut und Böse entscheiden würde. Auf dieser Grundlage maßt man sich
an, die Zulässigkeit sogenannter "pastoraler" Lösungen zu begründen, die im
Gegensatz zur Lehre des Lehramtes stehen, und eine "kreative" Hermeneutik zu
rechtfertigen, nach welcher das sittliche Gewissen durch ein partikulares
negatives Gebot tatsächlich nicht in allen Fällen verpflichtet würde.
Es gibt wohl niemanden, der nicht begreifen wird, daß mit diesen Ansätzen
nichts weniger als die Identität des sittlichen Gewissens selbst gegenüber der
Freiheit des Menschen und dem Gesetz Gottes in Frage gestellt wird. Erst die
vorausgehende Klärung der auf die Wahrheit gegründeten Beziehung zwischen
Freiheit und Gesetz macht eine Beurteilung dieser "schöpferischen"
Interpretation des Gewissens möglich.
Das Gewissensurteil
57. Derselbe Text aus dem Römerbrief, der uns das Wesen des
Naturgesetzes verständlich machte, weist auch auf den biblischen Sinn des
Gewissens hin, besonders in seiner spezifischen Verbindung mit dem Gesetz: "Wenn
Heiden, die das Gesetz nicht haben, von Natur aus das tun, was im Gesetz
gefordert ist, so sind sie, die das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz. Sie
zeigen damit, daß ihnen die Forderung des Gesetzes ins Herz geschrieben ist; ihr
Gewissen legt Zeugnis davon ab, ihre Gedanken klagen sich gegenseitig an und
verteidigen sich" (Röm 2,14-15).
Nach den Worten des hl. Paulus stellt das Gewissen den Menschen gewissermaßen
dem Gesetz gegenüber, wodurch es selber zum "Zeugen" für den Menschen wird:
Zeuge seiner Treue oder Untreue gegenüber dem Gesetz, das heißt seiner
fundamentalen sittlichen Rechtschaffenheit oder Schlechtigkeit. Das Gewissen ist
der einzige Zeuge: Was im Innersten der menschlichen Person vor sich geht,
bleibt den Augen von jedermann draußen verborgen. Es wendet sich mit seinem
Zeugnis nur an die Person selber. Und nur die Person wiederum kennt die eigene
Antwort auf die Stimme des Gewissens.
58. Die Bedeutung dieses inneren Dialogs des Menschen mit
sich selbst wird man niemals angemessen zu schätzen wissen. In Wirklichkeit ist
er jedoch der Dialog des Menschen mit Gott, dem Urheber des Gesetzes, dem ersten
Vorbild und letzten Ziel des Menschen. "Das Gewissen - schreibt der hl.
Bonaventura - ist gleichsam der Herold Gottes und der Bote, und was es sagt,
befiehlt es nicht von sich aus, sondern als Botschaft, die von Gott stammt, wie
ein Herold, wenn er den Erlaß des Königs verkündet. Und daher rührt die
verpflichtende Kraft des Gewissens". 103
Man kann also sagen, daß das Gewissen dem Menschen selber Zeugnis gibt von der
Rechtschaffenheit bzw. Schlechtigkeit des Menschen, aber zugleich, ja noch
früher, ist es Zeugnis von Gott selbst, dessen Stimme und dessen Urteil das
Innerste des Menschen bis an die Wurzeln seiner Seele durchdringen, wenn sie ihn
fortiter et suaviter zum Gehorsam rufen: "Das sittliche Gewissen schließt den
Menschen nicht in eine unüberschreitbare und undurchdringliche Einsamkeit ein,
sondern öffnet ihn für den Ruf, für die Stimme Gottes. Darin und in nichts
anderem besteht das ganze Geheimnis und die Würde des sittlichen Gewissens: daß
es nämlich der Ort ist, der heilige Raum, in dem Gott zum Menschen spricht".104
59. Der hl. Paulus beschränkt sich nicht auf die
Anerkennung des Gewissens als "Zeuge", sondern er enthüllt auch, auf welche
Weise es eine solche Funktion erfüllt. Es handelt sich um "Gedanken", die die
Heiden in bezug auf ihre Verhaltensweisen anklagen oder verteidigen (vgl. Röm
2,15). Der Ausdruck "Gedanken" macht den eigentlichen Charakter des Gewissens
offenkundig, nämlich ein sittliches Urteil über den Menschen und seine
Handlungen zu sein: Es ist ein Urteil, das freispricht oder verurteilt, je
nachdem, ob die menschlichen Handlungen mit dem in das Herz eingeschriebenen
Gesetz Gottes übereinstimmen oder von ihm abweichen. Und genau von dem Urteil
über die Handlungen, und zugleich über ihren Urheber sowie den Zeitpunkt der
endgültigen Erfüllung des Urteils, spricht der Apostel Paulus in demselben Text
als von "jenem Tag, an dem Gott, wie ich es in meinem Evangelium verkündige,
das, was im Menschen verborgen ist, durch Jesus Christus richten wird" (Röm
2,16).
Das Urteil des Gewissens ist ein praktisches Urteil, das heißt ein Urteil,
das anordnet, was der Mensch tun oder lassen soll, oder das eine von ihm bereits
ausgeführte Tat bewertet. Es ist ein Urteil, das die vernünftige Überzeugung,
daß man das Gute lieben und tun und das Böse meiden soll, auf eine konkrete
Situation anwendet. Dieses erste Prinzip der praktischen Vernunft gehört zum
Naturgesetz, ja es stellt dessen eigentliche Grundlage dar, insofern es jenes
ursprüngliche Licht zur Unterscheidung von Gut und Übel zum Ausdruck bringt, das
als Widerschein der schöpferischen Weisheit Gottes wie ein unzerstörbarer Funke
(scintilla animae) im Herzen jedes Menschen strahlt. Während jedoch das
Naturgesetz die objektiven und universalen Ansprüche des sittlich Guten
herausstellt, ist das Gewissen die Anwendung des Gesetzes auf den Einzelfall und
wird so für den Menschen zu einem inneren Gebot, zu einem Anruf, in der
konkreten Situation das Gute zu tun. Das Gewissen drückt also die sittliche
Verpflichtung im Lichte des Naturgesetzes aus: Es ist die Verpflichtung, das zu
tun, was der Mensch durch seinen Gewissensakt als ein Gutes erkennt, das ihm
hier und jetzt aufgegeben ist. Der universale Charakter des Gesetzes und der
Verpflichtung wird nicht ausgelöscht, sondern vielmehr anerkannt, wenn die
Vernunft deren Anwendungen in der konkreten aktuellen Situation bestimmt. Das
Urteil des Gewissens bestätigt äbschließend" die Übereinstimmung eines
bestimmten konkreten Verhaltens mit dem Gesetz; es ist die nächstliegende Norm
der Sittlichkeit einer willentlichen Handlung und realisiert "die Anwendung des
objektiven Gesetzes auf einen Einzelfall".105
60. Wie das Naturgesetz selbst und jede praktische
Erkenntnis, hat auch das Urteil des Gewissens befehlenden Charakter: Der Mensch
soll in Übereinstimmung mit ihm handeln. Wenn der Mensch gegen dieses Urteil
handelt oder auch wenn er bei fehlender Sicherheit über die Richtigkeit und Güte
eines bestimmten Aktes diesen dennoch ausführt, wird er vom eigenen Gewissen,
das die letzte maßgebliche Norm der persönlichen Sittlichkeit ist, verurteilt.
Die Würde dieser Vernunftinstanz und die Autorität ihrer Stimme und ihrer
Urteile stammen aus der Wahrheit über sittlich Gut und Böse, die zu hören und
auszudrücken sie gerufen ist. Auf diese Wahrheit wird vom "göttlichen Gesetz",
der universalen und objektiven Norm der Sittlichkeit, hingewiesen. Das Urteil
des Gewissens begründet nicht das Gesetz, aber es bestätigt die Autorität des
Naturgesetzes und der praktischen Beziehung in Beziehung zum höchsten Gut,
dessen Anziehungskraft die menschliche Person erfährt und dessen Gebote sie
annimmt: "Das Gewissen ist keine autonome und ausschließliche Instanz, um zu
entscheiden, was gut und was böse ist; ihm ist vielmehr ein Prinzip des
Gehorsams gegenüber der objektiven Norm tief eingeprägt, welche die
Übereinstimmung seiner Entscheidungen mit den Geboten und Verboten begründet und
bedingt, die dem menschlichen Verhalten zugrundeliegen." 106
61. Die im Gesetz der Vernunft ausgesprochene Wahrheit über
das sittlich Gute wird vom Urteil des Gewissens praktisch und konkret anerkannt,
was dazu führt, die Verantwortung für das vollbrachte Gute und das begangene
Böse zu übernehmen: Wenn der Mensch Schlechtes tut, bleibt das richtige
Gewissensurteil in ihm Zeuge der universalen Wahrheit des Guten wie auch der
Schlechtigkeit seiner Einzelentscheidung. Aber der Spruch des Gewissens bleibt
in ihm auch so etwas wie ein Unterpfand der Hoffnung und des Erbarmens: Während
es das begangene Übel bestätigt, erinnert es auch daran, um Verzeihung zu
bitten, das Gute zu tun und unaufhörlich mit Gottes Gnade die Tugend zu üben.
So offenbart sich im praktischen Urteil des Gewissens, das der menschlichen
Person die Verpflichtung zum Vollzug einer bestimmten Handlung auferlegt, das
Band zwischen Freiheit und Wahrheit. Deshalb zeigt sich das Gewissen mit
Ürteils"-Akten, die die Wahrheit über das Gute widerspiegeln, und nicht in
willkürlichen "Entscheidungen". Und die Reife und Verantwortung dieser Urteile -
und letztlich des Menschen, der ihr Subjekt ist - läßt sich nicht an der
Befreiung des Gewissens von der objektiven Wahrheit zugunsten einer angeblichen
Autonomie der eigenen Entscheidungen messen, sondern im Gegenteil am
beharrlichen Suchen nach der Wahrheit und daran, daß man sich von ihr beim
Handeln leiten läßt.
Nach dem Wahren und Guten suchen
62. Das Gewissen als Urteil über eine Handlung ist nicht
frei von der Möglichkeit zu irren. "Nicht selten geschieht es - schreibt das
Konzil -, daß das Gewissen aus unüberwindlicher Unkenntnis irrt, ohne daß es
dadurch seine Würde verliert. Das kann man aber nicht sagen, wenn der Mensch
sich zuwenig darum müht, nach dem Wahren und Guten zu suchen, und das Gewissen
durch Gewöhnung an die Sünde allmählich fast blind wird".107
Mit diesen knappen Worten bietet das Konzil eine Zusammenfassung der Lehre,
welche die Kirche im Laufe von Jahrhunderten über das irrende Gewissen
erarbeitet hat.
Gewiß, der Mensch muß, um ein "gutes Gewissen" (1 Tim 1,5) zu haben, nach der
Wahrheit suchen und gemäß dieser Wahrheit urteilen. Das Gewissen muß, wie der
Apostel Paulus sagt, "vom Heiligen Geist erleuchtet" sein (Röm 9,1), es muß
"rein" sein (2 Tim 1,3), es darf "das Wort Gottes nicht verfälschen", sondern
muß öffen die Wahrheit lehren" (2 Kor 4,2). Andererseits ermahnt derselbe
Apostel die Christen mit den Worten: "Gleicht euch nicht dieser Welt an,
sondern wandelt euch und erneuert euer Denken, damit ihr prüfen und erkennen
könnt, was der Wille Gottes ist: was ihm gefällt, was gut und vollkommen ist"
(Röm 12,2).
Die Mahnung des Paulus hält uns zur Wachsamkeit an mit dem warnenden Hinweis,
daß sich in den Urteilen unseres Gewissens immer auch die Möglichkeit des
Irrtums einnistet. Das Gewissensurteil ist kein unfehlbares Urteil: es kann
irren. Nichtsdestoweniger kann der Irrtum des Gewissens das Ergebnis einer
unüberwindbaren Unwissenheit sein, das heißt einer Unkenntnis, derer sich der
Mensch nicht bewußt ist und aus der er allein nicht herausgelangen kann.
In dem Fall, wo diese unüberwindliche Unkenntnis nicht schuldhaft ist,
verliert das Gewissen - so erinnert uns das Konzil - nicht seine Würde, weil es,
auch wenn es uns tatsächlich in einer von der objektiven sittlichen Ordnung
abweichenden Weise anleitet, dennoch nicht aufhört im Namen jener Wahrheit vom
Guten zu reden, zu deren aufrichtiger Suche der Mensch aufgerufen ist.
63. Auf jeden Fall beruht die Würde des Gewissens immer auf
der Wahrheit: Im Falle des rechten Gewissens handelt es sich um die vom Menschen
angenommene objektive Wahrheit; im Falle des irrenden Gewissens handelt es sich
um das, was der Mensch ohne Schuld subjektiv für wahr hält. Auf der anderen
Seite ist es niemals zulässig, einen "subjektiven" Irrtum hinsichtlich des
sittlich Guten mit der öbjektiven", dem Menschen auf Grund seines Endzieles
rational einsehbaren Wahrheit zu vermengen oder zu verwechseln, noch den
sittlichen Wert der mit wahrem und lauterem Gewissen vollzogenen Handlung mit
jener gleichzusetzen, die in Befolgung des Urteils eines irrenden Gewissens
ausgeführt wurde. 108
Das aufgrund einer unüberwindbaren Unwissenheit oder eines nicht schuldhaften
Fehlurteils begangene Übel kann zwar der Person, die es begeht, nicht als Schuld
anzurechnen sein; doch auch in diesem Fall bleibt es ein Übel, eine Unordnung in
bezug auf die Wahrheit des Guten. Zudem trägt das nicht erkannte Gute nicht zu
sittlicher Reifung des betreffenden Menschen bei: Es vervollkommnet ihn nicht
und hilft ihm nicht, ihn geneigt zu machen für das höchste Gut. Bevor wir uns so
leichtfertigerweise im Namen unseres Gewissens gerechtfertigt fühlen, sollten
wir über den Psalm nachdenken: "Wer bemerkt seine eigenen Fehler? Sprich mich
frei von Schuld, die mir nicht bewußt ist!" (Ps 19,13). Es gibt Schuld, die wir
nicht zu erkennen vermögen und die dennoch Schuld bleibt, weil wir uns geweigert
haben, auf das Licht zuzugehen (vgl. Joh 9,39-41).
Das Gewissen als letztes konkretes Urteil setzt seine Würde dann aufs Spiel,
wenn es schuldhaft irrt, das heißt, "wenn sich der Mensch nicht müht, das Wahre
und Gute zu suchen, und wenn das Gewissen infolge der Gewöhnung an die Sünde
gleichsam blind wird".109
Auf die Gefahren der Verformung des Gewissens spielt Jesus an, wenn er mahnt:
"Das Auge gibt dem Körper Licht. Wenn dein Auge gesund ist, dann wird dein
Körper hell sein. Wenn aber dein Auge krank ist, dann wird dein ganzer Körper
finster sein. Wenn nun das Licht in dir Finsternis ist, wie groß muß dann die
Finsternis sein!" (Mt 6,22-23).
64. In den oben wiedergegebenen Worten Jesu finden wir auch
den Aufruf, das Gewissen zu bilden, es zum Gegenstand ständiger Bekehrung zum
Wahren und Guten zu machen. Analog dazu ist die Aufforderung des Apostels zu
verstehen, uns nicht dieser Welt anzugleichen, sondern üns zu wandeln und unser
Denken zu erneuern" (vgl. Röm 12,2). In Wirklichkeit ist das zum Herrn und zur
Liebe des Guten bekehrte "Herz" die Quelle der wahren Urteile des Gewissens.
Denn "damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist: was ihm
gefällt, was gut und vollkommen ist" (Röm 12,2), ist zwar die Kenntnis des
Gesetzes Gottes im allgemeinen notwendig, aber sie genügt nicht: eine Art von
"Konnaturalität" zwischen dem Menschen und dem wahrhaft Guten ist unabdingbar.110 Eine
solche Konnaturalität schlägt Wurzel und entfaltet sich in den tugendhaften
Haltungen des Menschen selbst: der Klugheit und den anderen Kardinaltugenden
und, grundlegender noch, in den göttlichen Tugenden des Glaubens, der Hoffnung
und der Liebe. In diesem Sinne hat Jesus gesagt: "Wer aber die Wahrheit tut,
kommt zum Licht" (Joh 3,21).
Eine große Hilfe für die Gewissensbildung haben die Christen in der Kirche
und ihrem Lehramt, wie das Konzil ausführt: "Bei ihrer Gewissensbildung müssen
jedoch die Christgläubigen die heilige und sichere Lehre der Kirche sorgfältig
vor Augen haben. Denn nach dem Willen Christi ist die katholische Kirche die
Lehrerin der Wahrheit; ihre Aufgabe ist es, die Wahrheit, die Christus ist, zu
verkündigen und authentisch zu lehren, zugleich auch die Prinzipien der
sittlichen Ordnung, die aus dem Wesen des Menschen selbst hervorgehen,
autoritativ zu erklären und zu bestätigen".111
Die Autorität der Kirche, die sich zu moralischen Fragen äußert, tut also der
Gewissensfreiheit der Christen keinerlei Abbruch: nicht nur, weil die Freiheit
des Gewissens niemals Freiheit "von" der Wahrheit, sondern immer und nur
Freiheit "in" der Wahrheit ist, sondern auch weil das Lehramt an das christliche
Gewissen nicht ihm fremde Wahrheiten heranträgt, wohl aber ihm die Wahrheiten
aufzeigt, die es bereits besitzen sollte, indem es sie, ausgehend vom
ursprünglichen Glaubensakt, zur Entfaltung bringt. Die Kirche stellt sich immer
nur in den Dienst des Gewissens, indem sie ihm hilft, nicht hin- und
hergetrieben zu werden von jedem Windstoß der Lehrmeinungen, dem Betrug der
Menschen ausgeliefert (vgl. Eph 4,14), und nicht von der Wahrheit über das Gute
des Menschen abzukommen, sondern, besonders in den schwierigeren Fragen, mit
Sicherheit die Wahrheit zu erlangen und in ihr zu bleiben.
III. Grundentscheidung und konkrete Verhaltensweisen
"Nur nehmt die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch, sondern dient
einander in Liebe!" (Gal 5,13)
65. Das heute besonders brennende Interesse an der Freiheit
veranlaßt viele Vertreter der Humanwissenschaften wie auch der Theologie, eine
gründlichere Analyse ihrer Natur und ihrer Dynamik zu entwickeln. Mit Recht
betont man, daß Freiheit nicht nur bedeutet, diese oder jene Einzelhandlung zu
wählen, sondern sie ist, innerhalb einer solchen Wahl, auch Entscheidung über
sich und Verfügung darüber, das eigene Leben für oder gegen das Gute, für oder
gegen die Wahrheit, endgültig für oder gegen Gott einzusetzen. Mit Recht
unterstreicht man die herausragende Bedeutung einiger Entscheidungen, die dem
ganzen sittlichen Leben eines Menschen dadurch "Gestalt" verleihen, daß sie
gleichsam zum Flußbett werden, in dem dann auch andere tägliche
Einzelentscheidungen Platz und Entfaltung finden können.
Einige Autoren schlagen freilich eine viel radikalere Revision der Beziehung
zwischen Person und Handlung vor. Sie sprechen von einer "fundamentalen
Freiheit", die tiefgründiger und anders als die Wahlfreiheit ist, und ohne
deren Berücksichtigung die menschlichen Handlungen weder begriffen noch korrekt
bewertet werden könnten. Nach diesen Autoren käme die Schlüsselrolle im
sittlichen Leben einer "Grundoption" zu, die durch jene fundamentale Freiheit
vollzogen wird, mittels der die menschliche Person über sich selbst als ganze
entscheidet, und zwar nicht durch bestimmte und bewußte Wahl auf reflexer Ebene,
sondern in "transzendentaler" und äthematischer" Weise. Die aus dieser Option
stammenden Einzelhandlungen wären nur partiell und niemals endgültige Versuche,
diese Grundoption auszudrücken; sie wären lediglich "Zeichen" oder Symptom für
sie. Unmittelbarer Gegenstand dieser Handlungen ist - so heißt es - nicht das
absolute Gute (dem gegenüber sich, auf transzendentaler Ebene, die Freiheit der
Person äußern würde), sondern es sind die Einzelgüter (auch "kategoriale" Güter
genannt). Doch nach der Meinung einiger Theologen könnte aufgrund ihrer
partialen Natur keines dieser Güter die Freiheit des Menschen als Person völlig
in Anspruch nehmen, auch wenn der Mensch nur durch ihre Verwirklichung bzw.
ihre Zurückweisung seine Grundoption zum Ausdruck bringen kann.
So wird schließlich eine Unterscheidung zwischen der Grundoption und der
freien Wahl konkreter Verhaltensweisen eingeführt, eine Unterscheidung, die bei
einigen Autoren genau dann die Form einer Dissoziierung annimmt, wenn sie das
sittlich "Gute" und "Schlechte" ausdrücklich der transzendentalen Dimension der
Grundoption vorbehalten, während sie die Wahl einzelner "innerweltlicher" - das
heißt die Beziehungen des Menschen zu sich selber, zu den anderen und zur Welt
der Dinge betreffender - Verhaltensweisen als "richtig" oder "falsch"
bezeichnen. Auf diese Weise scheint sich im menschlichen Handeln eine Spaltung
zwischen zwei Ebenen der Sittlichkeit abzuzeichnen: die vom Willen abhängige
Ordnung von Gut und Böse auf der einen und die konkreten Verhaltensweisen auf
der anderen Seite, die erst infolge einer technischen Abwägung des Verhältnisses
zwischen "vorsittlichen" oder "physischen" Gütern und Übeln, auf die sich die
Handlung tatsächlich bezieht, als sittlich richtig oder falsch beurteilt werden.
Und das geht so weit, daß ein konkretes Verhalten, obwohl frei gewählt, gleich
wie ein bloßes Naturgeschehen und nicht nach den auf menschliche Handlungen
zutreffenden Kriterien betrachtet wird. Das Ergebnis, zu dem man gelangt,
lautet: die im eigentlichen Sinn sittliche Qualifizierung der Person hängt
allein von der Grundoption ab; welche Einzelhandlungen oder konkrete
Verhaltensweisen man wählt, ist für deren Ausformung ganz oder teilweise
belanglos.
66. Zweifellos anerkennt die christliche Sittenlehre in
ihren eigenen biblischen Wurzeln die besondere Bedeutung einer
Grundentscheidung, die das sittliche Leben kennzeichnet und die Freiheit radikal
Gott gegenüber in Anspruch nimmt. Es handelt sich um die Entscheidung des
Glaubens, um den Gehorsam des Glaubens (vgl. Röm 16,26), in dem "der Mensch sich
als ganzer Gott in Freiheit überantwortet, indem er sich ,dem offenbarenden
Gott mit Verstand und Willen voll unterwirft'".112
Dieser Glaube, der in der Liebe wirksam ist (vgl. Gal 5,6), kommt aus der Mitte
des Menschen, aus seinem "Herzen" (vgl. Röm 10,10) und ist von daher berufen,
Gutes hervorzubringen in den Werken (vgl. Mt 12,33-35; Lk 6,45; Röm 8,5-8; Gal
5,22). Im Dekalog steht über den einzelnen Geboten der fundamentale Satz: "Ich
bin Jahwe, dein Gott ..." (Ex 20,2), der dadurch, daß er den vielfältigen und
verschiedenen Einzelgeboten den ursprünglichen Sinn aufprägt, der Moral des
Bundes den Charakter der Ganzheit, Einheit und Tiefe sichert. Die
Grundentscheidung Israels betrifft also das grundlegende Gebot (vgl. Jos
24,14-25; Ex 19,3-8; Mich 6,8). Auch die Moral des Neuen Bundes wird von dem
grundlegenden Aufruf Jesu zu seiner "Nachfolge" beherrscht - so sagt er auch zu
dem jungen Mann: "Wenn du vollkommen sein willst, ... komm und folge mir nach!"
(Mt 19,21) -: Auf diesen Anruf antwortet der Jünger mit einer radikalen
Entscheidung. Die evangelischen Gleichnisse vom Schatz im Acker und von der
verlorenen Perle, für die einer seinen ganzen Besitz verkauft, sind beredte und
wirkungsvolle Bilder für den radikalen und bedingungslosen Charakter der
Entscheidung, die das Reich Gottes erfordert. Die Radikalität der Entscheidung,
Jesus nachzufolgen, findet großartigen Ausdruck in seinen Worten: "Wer sein
Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen und um
des Evangeliums willen verliert, wird es retten" (Mk 8,35).
Der Aufruf Jesu "komm und folge mir nach" bezeichnet den größtmöglichen
Lobpreis der Freiheit des Menschen und bestätigt gleichzeitig die Wahrheit und
Verpflichtung von Glaubensakten und Entscheidungen, die man Grundoption nennen
kann. Einer ähnlichen Hochschätzung der menschlichen Freiheit begegnen wir in
den Worten des hl. Paulus: "Ihr seid zur Freiheit berufen, Brüder" (Gal 5,13).
Aber der Apostel fügt sogleich eine ernste Mahnung an: "Nur nehmt die Freiheit
nicht zum Vorwand für das Fleisch!". In dieser Mahnung klingen seine
vorausgegangenen Worte an: "Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Bleibt daher
fest und laßt euch nicht von neuem das Joch der Knechtschaft auflegen!" (Gal
5,1). Der Apostel Paulus fordert uns zur Wachsamkeit auf: Die Freiheit ist
ständig von der Knechtschaft bedroht. Und genau das trifft auf einen Glaubensakt
- im Sinne einer Grundoption - zu, der den oben erwähnten Tendenzen entsprechend
von der Wahl der Einzelakte getrennt wird.
67. Diese Tendenzen stehen also im Gegensatz zur biblischen
Lehre, welche die Grundoption als eine echte und eigentliche Entscheidung der
Freiheit versteht und diese Entscheidung zutiefst mit den konkreten
Einzelhandlungen verbindet. Durch die Grundentscheidung ist der Mensch
befähigt, dem göttlichen Ruf folgend sein Leben auf sein Ziel auszurichten und
dies mit Hilfe der Gnade anzustreben. Aber tatsächlich ausgeübt wird diese
Befähigung jeweils in der konkreten Wahl bestimmter Handlungen, durch die der
Mensch sich aus freiem Entschluß nach dem Willen, der Weisheit und dem Gesetz
Gottes richtet. Es muß deshalb festgehalten werden, daß sich die sogenannte
Grundoption - insoweit sie sich von einer bloß generellen, bezüglich der konkret
engagierten Festlegung der Freiheit noch unbestimmten Intention unterscheidet -
immer durch bewußte und freie Wahlakte verwirklicht. Eben deshalb wird die
Grundoption genau dann widerrufen, wenn der Mensch in sittlich schwerwiegender
Materie seine Freiheit durch bewußte, in entgegengesetzte Richtung weisende
Wahlakte engagiert.
Die Grundoption von den konkreten Verhaltensweisen zu trennen heißt, sich mit
der wesenhaften Integrität oder der leib-seelischen personalen Einheit des
sittlich Handelnden in Widerspruch zu setzen. Eine Grundoption, verstanden ohne
ausdrückliche Berücksichtigung der Möglichkeiten, die sie aktualisiert, und der
Konkretisierungen, in denen sie zum Ausdruck kommt, wird der dem Handeln des
Menschen und jeder seiner freien Wahlakte innewohnenden rationalen
Zielhaftigkeit nicht gerecht. In Wirklichkeit ist die sittliche Qualität der
menschlichen Handlungen nicht allein aus der Absicht, der Grundorientierung oder
Grundoption abzuleiten - verstanden im Sinne einer Intention ohne klar bestimmte
bindende Inhalte bzw. einer Intention, die kein tatkräftiges Bemühen
hinsichtlich der verschiedenen Verpflichtungen des sittlichen Lebens entspricht.
Die Sittlichkeit kann nicht beurteilt werden, wenn man absieht von der
Übereinstimmung bzw. dem Widerspruch der bedachten Wahl einer konkreten
Verhaltensweise mit der Würde und der integralen Berufung der menschlichen
Person. Jede Handlungswahl schließt immer eine Bezugnahme des freien Willens auf
jene Güter und Übel ein, wie sie vom Naturgesetz als zu verfolgendes Gutes und
zu meidendes Übel aufgewiesen werden. Im Falle der positiv gebietenden
sittlichen Gebote ist es stets Aufgabe der Klugheit festzustellen, wie weit sie
für eine bestimmte Situation zutreffen, indem man zum Beispiel andere,
vielleicht wichtigere oder dringendere Verpflichtungen berücksichtigt. Die
negativ formulierten sittlichen Gebote hingegen, das heißt diejenigen, die
einige konkrete Handlungen oder Verhaltensweisen als in sich schlecht verbieten,
lassen keine legitime Ausnahme zu; sie lassen keinerlei moralisch annehmbaren
Freiraum für die "Kreativität" irgendeiner gegensätzlichen Bestimmung. Ist
einmal die sittliche Artbestimmung einer von einer allgemeingültigen Regel
verbotenen konkret definierten Handlung erkannt, so besteht das sittlich gute
Handeln allein darin, dem Sittengesetz zu gehorchen und die Handlung, die es
verbietet, zu unterlassen.
68. Hier gilt es, eine wichtige pastorale Überlegung
anzufügen. Gemäß der Logik der oben skizzierten Positionen könnte der Mensch
kraft einer Grundoption Gott treu bleiben, unabhängig davon, ob einige seiner
Wahlentscheidungen und seiner konkreten Handlungen mit den spezifischen darauf
bezogenen sittlichen Normen oder Regeln übereinstimmen oder nicht. Aufgrund
einer anfänglichen Option für die Liebe könnte der Mensch sittlich gut bleiben,
in der Gnade Gottes verharren und sein Heil erlangen, auch wenn einige seiner
konkreten Verhaltensweisen aus freiem Entschluß und in schwerwiegender Sache zu
den von der Kirche wieder vorgelegten Geboten Gottes entschieden und ernsthaft
im Gegensatz stünden.
In Wirklichkeit geht der Mensch nicht nur durch die Untreue gegenüber jener
Grundoption verloren, durch die er sich äls ganzer Gott in Freiheit"
überantwortet.113
Durch jede aus bedachtem Entschluß begangene Todsünde beleidigt er Gott, der ihm
das Gesetz geschenkt hat, und macht sich daher dem ganzen Gesetz gegenüber
schuldig (vgl. Jak 2,8-11); auch wenn er im Glauben bleibt, verliert er die
"heiligmachende Gnade", die "Liebe" und die "ewige Seligkeit".114
"Die einmal empfangene Gnade der Rechtfertigung - so lehrt das Konzil von Trient
- kann nicht nur durch die Untreue, die den Menschen um seinen Glauben bringt,
sondern auch durch jede andere Todsünde verlorengehen".115
Todsünde und läßliche Sünde
69. Die Erwägungen über die Grundoption haben, wie wir
bemerkten, einige Theologen veranlaßt, auch die traditionelle Unterscheidung
zwischen Todsünden und läßlichen Sünden einer tiefgreifenden Revision zu
unterziehen. Sie unterstreichen, daß der Widerspruch zum Gesetz Gottes, der den
Verlust der heiligmachenden Gnade - und, im Falle des Todes in einem solchen
Zustand der Sünde, die ewige Verdammnis - verursacht, nur das Ergebnis eines
Aktes sein kann, der die Person in ihrer Totalität beansprucht, das heißt eben
eines Aktes der Grundoption. Nach diesen Theologen würde sich die Todsünde, die
den Menschen von Gott trennt, nur in der Zurückweisung Gottes ereignen,
vollzogen auf einer nicht mit einem Wahlakt identifizierbaren und nicht durch
reflektierte Bewußtheit erreichbaren Ebene der Freiheit. In diesem Sinne - so
fügen sie hinzu - ist es zumindest psychologisch schwierig, die Tatsache zu
akzeptieren, daß ein Christ, der mit Jesus Christus und seiner Kirche vereint
bleiben will, so leicht und immer wiederTodsünden begehen kann, wie dies die
"Materie" seiner Taten hin und wieder vermuten ließe. Ebenso fiele es schwer
anzunehmen, der Mensch sei imstande, in kurzer Zeit die Bande der Gemeinschaft
mit Gott radikal zu zerbrechen und sich im nachhinein durch aufrichtige Buße zu
ihm zu bekehren. Es wäre daher notwendig - so heißt es -, die Schwere der Sünde
eher am Grad zu messen, in dem sie die Freiheit der handelnden Person
engagiert, als an der Materie der betreffenden Handlung.
70. Das nachsynodale Apostolische Schreiben Reconciliatio
et paenitentia hat die Bedeutung und bleibende Aktualität der Unterscheidung
zwischen Todsünden und läßlichen Sünden, gemäß der Tradition der Kirche,
betont. Und die Bischofssynode von 1983, aus der dieses Schreiben hervorgegangen
ist, "hat nicht nur die vom Tridentinischen Konzil über Existenz und Natur von
Todsünde und läßlicher Sünde verkündete Lehre bekräftigt, sondern hat auch daran
erinnern wollen, daß jene Sünde eine Todsünde ist, die eine schwerwiegende
Materie zum Gegenstand hat und die dazu mit vollem Bewußtsein und bedachter
Zustimmung begangen wird".116
Die Aussage des Konzils von Trient hat nicht nur die "schwerwiegende Materie"
der Todsünde im Auge, sondern erwähnt auch als ihre Voraussetzung "das volle
Bewußtsein und die bedachte Zustimmung". Im übrigen kennt man sowohl in der
Moraltheologie wie in der Seelsorgepraxis Fälle, wo ein aufgrund seiner Materie
schwerwiegender Akt deshalb keine Todsünde darstellt, weil das volle Bewußtsein
oder die bedachte Zustimmung dessen, der den Akt vollbrachte, nicht gegeben war.
Andererseits "muß man vermeiden, die Todsünde zu beschränken auf den Akt einer
Grundentscheidung oder Grundoption (öptio fundamentalis") gegen Gott, wie man
heute zu sagen pflegt, unter der man dann eine ausdrückliche und formale
Beleidigung Gottes oder des Nächsten oder eine mitinbegriffene und unüberlegte
Zurückweisung der Liebe versteht. Es handelt sich nämlich auch um eine Todsünde,
wenn sich der Mensch bewußt und frei aus irgendeinem Grunde für etwas
entscheidet, was in schwerwiegender Weise sittlich ungeordnet ist. Tatsächlich
ist ja in einer solchen Entscheidung bereits eine Mißachtung des göttlichen
Gebotes enthalten, eine Zurückweisung der Liebe Gottes zur Menschheit und zur
ganzen Schöpfung: Der Mensch entfernt sich so von Gott und verliert die Liebe.
Die Grundorientierung kann also durch konkrete Einzelhandlungen völlig
umgeworfen werden. Zweifellos kann es unter psychologischem Aspekt viele
komplexe und dunkle Situationen geben, die auf die subjektive Schuld des Sünders
Einfluß haben mögen. Aufgrund einer Betrachtung auf psychologischer Ebene kann
man jedoch nicht zur Schaffung einer theologischen Kategorie, wie gerade
diejenige der öptio fundamentalis" übergehen, wenn sie so verstanden wird, daß
sie auf der objektiven Ebene die traditionelle Auffassung von Todsünde ändert
oder in Zweifel zieht".117
Die Dissoziierung von Grundoption und bedachter, diese nicht in Frage
stellender Wahl bestimmter, in sich selbst oder durch die Umstände ungeordneter
Verhaltensweisen, hängt also mit der Verkennung der katholischen Lehre über die
Todsünde zusammen: "Mit der ganzen Tradition der Kirche nennen wir denjenigen
Akt eine Todsünde, durch den ein Mensch bewußt und frei Gott und sein Gesetz
sowie den Bund der Liebe, den dieser ihm anbietet, zurückweist, indem er es
vorzieht, sich sich selbst zuzuwenden oder irgendeiner geschaffenen oder
endlichen Wirklichkeit, irgendeiner Sache, die im Widerspruch zum göttlichen
Willen steht (conversio ad creaturam - Hinwendung zum Geschaffenen). Dies kann
auf direkte und formale Weise geschehen, wie bei den Sünden der Götzenverehrung,
des Abfalles von Gott und der Gottlosigkeit, oder auf gleichwertige Weise, wie
in jedem Ungehorsam gegenüber den Geboten Gottes bei schwerwiegender Materie".118
IV. Die sittliche Handlung
Teleologie und Teleologismus
71. Die Beziehung zwischen der Freiheit des Menschen und
dem Gesetz Gottes, die ihren tiefsten und lebendigen Sitz im sittlichen Gewissen
hat, äußert und verwirklicht sich in den menschlichen Handlungen. Gerade durch
seine Handlungen vervollkommnet sich der Mensch als Mensch, als Mensch, der
berufen ist, aus eigenem Entschluß seinen Schöpfer zu suchen und in
Zugehörigkeit zu ihm frei zur vollen und seligen Vollendung zu gelangen.119
Menschliche Handlungen sind sittliche Handlungen, weil sie das Gutsein oder
die Schlechtigkeit des jene Handlungen vollziehenden Menschen selbst ausdrücken
und über sie entscheiden.120
Sie rufen nicht nur Veränderungen in dem Menschen äußerlichen Sachverhalten
hervor, sondern als freie Wahlakte qualifizieren sie in sittlicher Hinsicht die
Person selbst, die sie vollzieht, und bestimmen ihr geistiges Tiefenprofil, wie
der hl. Gregor von Nyssa eindrucksvoll feststellt: Älle dem Werden unterworfenen
Wesen bleiben niemals sich selbst identisch, sondern gehen durch eine dauernd
wirkende Veränderung zum Guten oder zum Schlechten ständig von einem Zustand in
einen anderen über ... Der Veränderung unterworfen sein, heißt also unablässig
geboren werden ... Aber die Geburt erfolgt hier nicht durch einen äußeren
Eingriff, wie es bei den leiblichen Wesen der Fall ist ... Sie ist das Ergebnis
freier Wahl, und so sind wir gewissermaßen unsere eigenen Erzeuger, indem wir
uns so erschaffen, wie wir wollen, und uns mit unserer Wahl die Gestalt geben,
die wir wollen".121
72. Die Sittlichkeit der Handlungen bestimmt sich aufgrund
der Beziehung der Freiheit des Menschen zum wahrhaft Guten. Dieses Gute ist als
ewiges Gesetz durch Gottes Weisheit begründet, die jedes Wesen auf sein Endziel
hinordnet: Erkannt wird dieses ewige Gesetz sowohl durch die natürliche Vernunft
des Menschen (so heißt es "Naturgesetz") als auch - in vollumfänglicher und
vollkommener Weise - durch die übernatürliche Offenbarung Gottes (dann nennt man
es "göttliches Gesetz"). Das Handeln ist sittlich gut, wenn die der Freiheit
entspringenden Wahlakte mit dem wahren Gut des Menschen übereinstimmen und damit
Ausdruck der willentlichen Hinordnung der Person auf ihr letztes Ziel, also
Gott selber, sind: Das höchste Gut, in dem der Mensch sein volles und
vollkommenes Glück findet. Die Eingangsfrage in dem Gespräch des jungen Mannes
mit Jesus: "Was muß ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen?" (Mt 19,16),
verdeutlicht in direkter Weise den wesenhaften Zusammenhang zwischen dem
sittlichen Wert einer Handlung und dem letzten Ziel des Menschen. Jesus
bestätigt in seiner Antwort die Überzeugung seines Gesprächspartners: Das Tun
des Guten, wie es von dem geboten ist, der "allein der Gute" ist, stellt die
unerläßliche Voraussetzung und den Weg zur ewigen Seligkeit dar: "Wenn du das
Leben erlangen willst, halte die Gebote" (Mt 19,17). Die Antwort Jesu und der
Hinweis auf die Gebote machen auch offenkundig, daß der Weg zum Ziel von der
Befolgung der göttlichen Gesetze, die das menschliche Wohl schützen,
vorgezeichnet wird. Nur eine Handlung, die dem Guten entspricht, kann Weg zum
Leben sein.
Die vernunftgeleitete Hinordnung der menschlichen Handlungen auf das wahrhaft
Gute und das willentliche Streben nach diesem Gut machen die Sittlichkeit aus.
Das menschliche Handeln kann also nicht allein deshalb als sittlich gut bewertet
werden, weil es dazu dienlich ist, dieses oder jenes verfolgte Ziel zu
erreichen, oder einfach weil die Absicht des Handelnden gut ist. 122
Das menschliche Handeln ist dann sittlich gut, wenn es die willentliche
Hinordnung der menschlichen Person auf das letzte Ziel und die Übereinstimmung
der konkreten Handlung mit dem wahren menschlichen Gut, wie es von der Vernunft
in seiner Wahrheit erkannt wird, bestätigt und zum Ausdruck bringt. Wenn der
Gegenstand der konkreten Handlung nicht mit dem wahren Gut der Person in
Einklang steht, macht die Wahl dieser Handlung unseren Willen und uns selber
sittlich schlecht und setzt uns damit in Gegensatz zu unserem letzten Ziel, dem
höchsten Gut, das heißt Gott selber.
73. Dank der Offenbarung Gottes und des Glaubens weiß der
Christ um das "Neue", von dem die Sittlichkeit seiner Taten gekennzeichnet ist;
diesen kommt es zu, bestehender oder nicht bestehender konsequenter
Übereinstimmung mit jener Würde und Berufung Ausdruck zu geben, die ihm durch
Gnade geschenkt worden sind: In Jesus Christus und seinem Geist ist der Christ
eine "neue Schöpfung", Kind Gottes, und durch seine Handlungen bekundet er seine
Übereinstimmung mit oder seine Abweichung von dem Bild des Sohnes, der der
Erstgeborene unter vielen Brüdern ist (vgl. Röm 8,29), lebt er seine Treue oder
Untreue gegenüber dem Geschenk des Geistes und öffnet oder verschließt er sich
dem ewigen Leben, der Gemeinschaft von Schau, Liebe und Seligkeit mit Gott
Vater, Sohn und Heiligem Geist.123
Christus "gestaltet uns so nach seinem Bild - schreibt der hl. Kyrillos von
Alexandrien -, daß durch die Heiligung und die Gerechtigkeit und das gute und
tugendmäßige Leben die Züge seiner göttlichen Natur in uns zum Leuchten
kommen... Die Schönheit dieses Bildes erstrahlt in uns, die wir in Christus
sind, wenn wir uns in den Werken als gute Menschen erweisen".124
In diesem Sinne besitzt das sittliche Leben einen wesenhaft "teleologischen"
Charakter, weil es in der freien und bewußten Hinordnung des menschlichen
Handelns auf Gott, das höchste Gut und letzte Ziel (telos) des Menschen,
besteht. Das bestätigt wiederum die Frage des jungen Mannes an Jesus: "Was muß
ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen?" Aber diese Hinordnung auf das
letzte Ziel bewegt sich nicht in einer bloß subjektivistischen Dimension, die
nur von der Absicht abhinge. Sie setzt voraus, daß diesen Handlungsweisen von
sich aus die Eigenschaft zukommt, auf dieses Ziel hingeordnet werden zu können,
weil sie nämlich dem durch die Gebote geschützten wahren sittlichen Gut des
Menschen entsprechen. Genau das spricht Jesus in der Antwort an den reichen
Jüngling an: "Wenn du das Leben erlangen willst, halte die Gebote!" (Mt 19,17).
Offensichtlich geht es um eine vernunftgeleitete und freie, bewußte und
überlegte Hinordnung, kraft welcher der Mensch für seine Handlungen
"verantwortlich" und dem Urteil Gottes unterworfen ist, des gerechten und guten
Richters, der das Gute belohnt und das Böse bestraft, wie der Apostel Paulus
ausführt: "Denn wir alle müssen vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden,
damit jeder seinen Lohn empfängt für das Gute oder Böse, das er im irdischen
Leben getan hat" (2 Kor 5,10).
74. Aber wovon hängt die moralische Bewertung des freien
Handelns des Menschen ab? Wodurch wird diese Hinordnung der menschlichen
Handlungen auf Gott sichergestellt? Von der Intention des handelnden Subjektes,
von den Umständen - und insbesondere von den Folgen - seines Handelns, vom
Objekt seines Handelns selbst?
Das ist das, traditionellerweise sogenannte, Problem der "Quellen der
Moralität". Und gerade im Hinblick auf dieses Problem haben sich in den letzten
Jahrzehnten neue - oder wieder erneuerte - kulturelle und theologische
Strömungen offenbart, die eine sorgfältige Klärung von seiten des Lehramtes der
Kirche erfordern.
Einige als "teleologisch" bezeichnete ethische Theorien richten ihre
Aufmerksamkeit auf die Übereinstimmung der menschlichen Handlungen mit den vom
Handelnden verfolgten Zielen und mit den von ihm zu realisieren beabsichtigten
Werten. Die Kriterien zur moralischen Beurteilung einer Handlung werden aus der
Abwägung der zu erlangenden nicht-sittlichen und vor-sittlichen Güter und der
entsprechenden zu respektierenden nicht-sittlichen und vor-sittlichen Werte
gewonnen. Für manche wäre das konkrete Verhalten richtig bzw. falsch je nachdem,
ob es für alle betroffenen Personen einen besseren Zustand hervorzubringen
vermag oder nicht: Richtig wäre das Verhalten, das imstande ist, die Güter zu
"maximieren" und die Übel zu "minimieren".
Viele der katholischen Moraltheologen, die dieser Auffassung folgen, möchten
nichts mit Utilitarismus und Pragmatismus zu tun haben, bei denen die
Sittlichkeit der menschlichen Handlungen ohne Bezugnahme auf das wahre letzte
Ziel des Menschen beurteilt werde. Zu Recht sind sie sich der Notwendigkeit
bewußt, für die Vernunft einsichtige, immer stichhaltigere Argumente zu finden,
um die Anforderungen des sittlichen Lebens zu rechtfertigen und die
entsprechenden sittlichen Normen zu begründen. Und dieses Forschen ist gerade
insofern legitim und notwendig, als ja die im Naturgesetz festgelegte sittliche
Ordnung menschlicher Vernunfterkenntnis grundsätzlich zugänglich ist. Dieses
Suchen entspricht im übrigen den Erfordernissen des Dialogs und der
Zusammenarbeit mit den Nicht-Katholiken und den Nicht-Glaubenden, besonders in
pluralistischen Gesellschaften.
75. Aber im Rahmen des Bemühens um die Erarbeitung einer
solchen vernunftgemäßen Moral - deshalb manchmal auch äutonome Moral" genannt -
gibt es falsche Lösungen, die insbesondere mit einem unzulänglichen Verständnis
dessen zusammenhängt, was man das Öbjekt" des sittlichen Handelns nennt. Einige
schenken der Tatsache nicht genügend Beachtung, daß der Wille in die konkreten
Wahlakte, die er vollzieht, miteinbezogen ist: diese sind Voraussetzung für sein
sittliches Gutsein und für seine Hinordnung auf das letzte Ziel der Person.
Andere hingegen inspirieren sich an einer Konzeption der Freiheit, die von den
tatsächlichen Bedingungen ihrer Ausübung, von ihrem objektiven Bezug zur
Wahrheit des Guten, von ihrer Bestimmung durch die Wahl konkreter
Verhaltensweisen absieht. Nach diesen Theorien wäre also der freie Wille weder
bestimmten Verpflichtungen sittlich unterworfen noch würde er durch seine
Wahlakte geformt, auch wenn er für seine Handlungen und deren Folgen
verantwortlich bleibt. Dieser "Teleologismus", als Methode der Entdeckung der
moralischen Norm, kann also - entsprechend den aus verschiedenen Denkströmungen
entnommenen Terminologien und Geisteshaltungen - als "Konsequentialismus" oder
"Proportionalismus" bezeichnet werden. Ersterer beansprucht die Kriterien für
die Richtigkeit eines bestimmten Handelns, die lediglich aus den voraussehbaren
Folgen einer getroffenen Wahl hervorgehen. Der zweite - unter Abwägen zwischen
den Werten und den verfolgten Gütern - orientiert sich eher an der anerkannten
Verhältnismäßigkeit bezüglich der guten und bösen Auswirkungen hinsichtlich des
"höheren Gutes" oder des "kleineren Übels", die in einer besonderen Situation
wirklich möglich sind.
Die teleologischen Ethiken (Proportionalismus, Konsequentialismus) anerkennen
zwar, daß die sittlichen Werte durch Vernunft und Offenbarung aufgezeigt
werden; dennoch halten sie daran fest, daß sich bezüglich konkret bestimmbarer
Verhaltensweisen, die unter allen Umständen und in allen Kulturen zu diesen
sittlichen Werten in Widerspruch stünden, niemals eine absolute Verbotsnorm
formulieren lasse. Das handelnde Subjekt wäre selbstverständlich für die
Erlangung der verfolgten Werte verantwortlich, dies jedoch in zweifacher
Hinsicht: Die durch eine menschliche Handlung betroffenen Werte oder Güter wären
einerseits moralischer Art (bezogen auf eigentlich sittliche Werte wie
Gottesliebe, Wohlwollen gegenüber dem Mitmenschen, Gerechtigkeit usw.) und, in
anderer Hinsicht, vor-moralischer Art, eine Ebene, die auch nichtsittlich,
physisch oder ontisch genannt wird (bezogen auf Nutzen und Schaden, die sowohl
dem Handelnden als auch anderen, früher oder später involvierten Personen
erwachsen, wie zum Beispiel: Gesundheit bzw. ihre Beeinträchtigung, physische
Unversehrtheit, Leben, Tod, der Verlust materieller Güter usw.). In einer Welt,
in der das Gute immer mit dem Übel vermischt und jede gute Wirkung mit anderen
schlechten Auswirkungen verbunden wäre, müßte man die Sittlichkeit der Handlung
in differenzierter Weise beurteilen: ihr sittliches "Gutsein" aufgrund der sich
auf sittliche Güter beziehenden Absicht des Subjektes, ihre "Richtigkeit"
aufgrund ihrer vorhersehbaren Wirkungen oder Folgen und deren Verhältnis
zueinander. Konkrete Verhaltensweisen müßten daher als "richtig" bzw. "falsch"
bewertet werden, ohne daß es deshalb schon möglich wäre, den Willen der Person,
der sie wählt, als sittlich "gut" oder "schlecht" zu bezeichnen. Auf diese
Weise könnte eine Handlung, die, im Widerspruch zu einer universellen
Verbotsnorm, als vor-moralisch bezeichnete Güter direkt verletzt, als sittlich
zulässig bewertet werden, falls sich die Absicht des Subjektes, gemäß
"verantwortlicher" Abwägung der bei der konkreten Handlung auf dem Spiel
stehenden Güter, auf den in der gegebenen Situation für entscheidend gehaltenen
sittlichen Wert richtet.
Die Bewertung der Folgen der Handlung aufgrund der Verhältnismäßigkeit des
Aktes bezüglich seiner Auswirkungen und der Auswirkungen untereinander würde
lediglich die vor-moralische Ordnung betreffen. Über die sittliche
Artbestimmtheit der Handlungen, d.h. über ihre Güte oder Schlechtigkeit, würde
allein die Treue der Person zu den höchsten Werten der Liebe und Klugheit
entscheiden, ohne daß solche Treue notwendigerweise mit Entscheidungen
unvereinbar wäre, die bestimmten sittlichen Einzelverboten widersprechen. Auch
im Falle schwerwiegender Materie müßten diese letzteren als stets relative und
Ausnahmen unterliegende Handlungsnormen angesehen werden.
Gemäß dieser Sichtweise würde dann die bewußte Einwilligung in bestimmte
Verhaltensweisen, die in der traditionellen Moral als unerlaubt gelten, auch
nichts objektiv sittlich Schlechtes einschließen.
Der Gegenstand der freien menschlichen Handlung
76. Diese Theorien gewinnen vielleicht aufgrund ihrer
Verwandschaft mit der naturwissenschaftlichen Denkweise eine gewisse
Überzeugungskraft; das wissenschaftliche Denken bemüht sich zu Recht, das
technische und wirtschaftliche Schaffen aufgrund der Berechnung der Ressourcen
und der Gewinne, der Verfahrensweisen und ihrer Auswirkungen zu ordnen. Es will
von den Zwängen einer voluntaristischen und willkürlichen Pflichtmoral befreien,
die sich als unmenschlich erweisen würde.
Derartige Theorien sind jedoch der Lehre der Kirche nicht treu, wenn sie
glauben, die freie und bedachte Wahl von Verhaltensweisen, die den Geboten des
göttlichen und des Naturgesetzes widersprechen, als sittlich gut rechtfertigen
zu können. Diese Theorien können sich nicht auf die katholische moralische
Tradition berufen: wenn es wahr ist, daß sich in dieser letzteren eine Kasuistik
entwickelt hat, die darauf bedacht ist, in einigen konkreten Situationen die
besseren Möglichkeiten für das Gute zu erwägen, so ist ebenso wahr, daß dies nur
jene Fälle betrifft, in denen das Gesetz unbestimmt war und daher die absolute
Gültigkeit der moralischen negativen Gebote, die ohne Ausnahme verpflichten,
nicht in Frage stellte. Die Gläubigen sind verpflichtet, die spezifischen, von
der Kirche im Namen Gottes, des Schöpfers und Herrn, vorgelegten und gelehrten
sittlichen Gebote anzuerkennen und zu achten.125
Wenn der Apostel Paulus die Erfüllung des Gesetzes in dem Gebot zusammenfaßt,
den Nächsten zu lieben wie sich selbst (vgl. Röm 13,8-10), schwächt er damit
nicht die Gebote ab, sondern er bestätigt sie vielmehr, da er deren Forderungen
und Gewicht offenlegt. Die Gottesliebe und die Nächstenliebe sind nicht zu
trennen von der Einhaltung der Gebote des Bundes, der im Blut Jesu Christi und
durch die Gabe des Geistes erneuert wurde. Es gereicht den Christen zur Ehre,
Gott mehr zu gehorchen als den Menschen (vgl. Apg 4,19; 5,29) und dafür auch das
Martyrium auf sich zu nehmen, wie es die heiligen Männer und Frauen des Alten
und Neuen Testamentes getan haben; sie wurden als heilig anerkannt, weil sie
eher ihr Leben hingegeben haben als diese oder jene im Widerspruch zum Glauben
oder zur Tugend stehende konkrete Einzelhandlung auszuführen.
77. Um vernunftgemäße Kriterien für die rechte sittliche
Entscheidung bereitzustellen, berücksichtigen die erwähnten Theorien die Absicht
und die Folgen des menschlichen Handelns. Gewiß müssen sowohl die Absicht - wie
Jesus in offenem Gegensatz zu den Schriftgelehrten und Pharisäern, die ohne auf
das Herz zu achten, gewisse äußere Werke pedantisch vorschrieben, mit besonderem
Nachdruck betont (vgl. Mk 7,20-21; Mt 15,19) -, als auch die infolge einer
einzelnen Handlung erlangten Güter und vermiedenen Übel entscheidend in Erwägung
gezogen werden. Es handelt sich um eine Forderung der Verantwortlichkeit. Aber
die Erwägung dieser Folgen - ebenso wie der Absichten - genügt nicht für die
Bewertung der moralischen Qualität einer konkreten Wahl. Die Abwägung der als
Folge einer Handlung vorhersehbaren Güter und Übel ist keine angemessene
Methode, um bestimmen zu können, ob die Wahl dieses Verhaltens "ihrer
Artbestimmung nach" oder "in sich selbst" sittlich gut oder schlecht, erlaubt
oder unerlaubt ist. Die vorhersehbaren Folgen gehören zu jenen Umständen des
Aktes, die zwar die Schwere einer schlechten Handlung modifizieren, jedoch nicht
ihre moralische Spezies verändern können.
Im übrigen weiß jeder, wie schwierig - oder, besser, wie unmöglich - es ist,
alle Folgen und alle im vor-moralischen Sinne guten bzw. schlechten Auswirkungen
der eigenen Handlungen zu bewerten: ein erschöpfendes vernünftiges Kalkulieren
ist nicht möglich. Wie soll man Proportionen ausmachen, die von einer Bewertung
abhängen, deren Kriterien im Dunkeln verbleiben? Wie könnte man aufgrund derart
fraglicher rechnerischer Überlegungen eine absolute Inpflichtnahme
rechtfertigen?
78. Der sittliche Charakter der menschlichen Handlungen ist
zunächst einmal und fundamental von dem durch den freien Willen vernunftgemäß
gewählten Gegenstand abhängig, wie es auch die scharfsinnige, noch immer gültige
Analyse des hl. Thomas aufweist.126
Um den Gegenstand einer Handlung, der sie sittlich spezifiziert, erfassen zu
können, muß man sich daher in die Perspektive der handelnden Person versetzen.
Das Objekt des Willensaktes ist ja ein frei gewähltes Verhalten. Insofern es mit
der Vernunftordnung übereinstimmt, ist es Ursache der Güte des Willens, macht
es uns sittlich vollkommener und hilft uns, unser letztes Ziel im vollkommenen
Guten, der ursprünglichen Liebe, zu erkennen. Unter Öbjekt" einer bestimmten
sittlichen Handlung kann man daher nicht einen Prozeß oder ein Ereignis rein
physischer Ordnung verstehen, die danach zu bewerten wären, daß sie einen
bestimmten Zustand in der äußeren Welt hervorrufen. Das Objekt ist das
unmittelbare Ziel einer freien Wahl, die den Willensakt der handelnden Person
prägt. In diesem Sinne gibt es, wie der Katechismus der katholischen Kirche
lehrt, "konkrete Verhaltensweisen, die zu wählen immer falsch ist, weil ihre
Wahl die Ungeordnetheit des Willens einschließt, das heißt ein sittliches
Übel".127 "Es
geschieht nicht selten - schreibt der hl. Thomas von Aquin -, daß der Mensch in
guter Absicht, aber in nichtsnutziger Weise handelt, weil ihm der gute Wille
fehlt. Zum Beispiel, wenn einer stiehlt, um einen Armen zu ernähren: Obwohl in
diesem Fall die Absicht recht ist, fehlt hier die Richtigkeit eines
angemessenen Willens. Kurz und gut, die gute Absicht entschuldigt keineswegs die
Ausführung böser Werke. ,Einige legen uns in den Mund: Laßt uns Böses tun, damit
Gutes entsteht. Diese Leute werden mit Recht verurteilt' (Röm 3,8)".128
Der Grund, warum die gute Absicht nicht genügt, sondern es auch der richtigen
Wahl der Werke bedarf, liegt darin, daß die menschliche Handlung von ihrem
Gegenstand beziehungsweise davon abhängt, ob dieser Gegenstand auf Gott, also
den, der "a llein ,der Gute' ist", hingeordnet werden kann oder nicht und so die
Vollkommenheit der menschlichen Person bewirkt. Eine Handlung ist daher gut,
wenn ihr Gegenstand (Objekt) dem Gut der Person, unter Respektierung der für sie
sittlich bedeutsamen Güter, entspricht. Die christliche Ethik, die dem
Gegenstand sittlicher Handlungen eine ganz besondere Beachtung schenkt, lehnt es
also nicht ab, die innere "Teleologie" des Handelns in Betracht zu ziehen,
insofern auf die Förderung des wahren Gutes der Person gerichtet; sie hält aber
fest, daß letzteres nur dann wahrhaftig verfolgt wird, wenn die wesentlichen
Aspekte der menschlichen Natur respektiert werden. Die ihrem Gegenstand nach
gute menschliche Handlung besitzt auch die Eigenschaft, auf das letzte Ziel
hingeordnet werden zu können. Eben diese Handlung erlangt dann ihre letzte und
entscheidende Vollkommenheit, wenn der Wille sie durch die Liebe tatsächlich auf
Gott hinordnet. In diesem Sinne lehrt der Patron der Moraltheologen und
Beichtväter: "Es genügt nicht, gute Werke zu tun, sie müssen gut getan werden.
Damit unsere Werke gut und vollkommen sind, müssen wir sie mit dem klaren Ziel
tun, daß sie Gott gefallen".129
Das "in sich Schlechte": Man darf nicht Böses tun, damit Gutes entsteht
(vgl. Röm 3,8).
79. Zurückgewiesen werden muß daher die für teleologische
und proportionalistische Theorien typische Ansicht, es sei unmöglich, die
bewußte Wahl einiger Verhaltensweisen bzw. konkreter Handlungen nach ihrer
Spezies - ihrem Öbjekt" - als sittlich schlecht zu bewerten, ohne die Absicht,
mit der diese Wahl vollzogen wurde, oder ohne die Gesamtheit der vorhersehbaren
Folgen jener Handlungen für alle betroffenen Personen zu berücksichtigen.
Das vorrangige und entscheidende Element für das moralische Urteil ist das
Objekt der menschlichen Handlung, das darüber entscheidet, ob sie auf das Gute
und auf das letzte Ziel, das Gott ist, hingeordnet werden kann. Ob dies so ist,
erkennt die Vernunft im Sein des Menschen selbst, verstanden in seiner
vollumfänglichen Wahrheit, und damit unter Berücksichtigung seiner natürlichen
Neigungen, seiner Triebkräfte und seiner Zweckbestimmtheiten, die immer auch
eine geistige Dimension besitzen: Genau das sind die Inhalte des Naturgesetzes
und damit die geordnete Gesamtheit der "Güter für die menschliche Person", die
sich in den Dienst des "Gutes der Person" stellen, des Gutes, das sie selbst und
ihre Vollendung ist. Das sind die von den Geboten (des Dekalogs) geschützten
Güter, der nach dem hl. Thomas das ganze Naturgesetz enthält. 130
80. Nun bezeugt die Vernunft, daß es Objekte menschlicher
Handlungen gibt, die sich "nicht auf Gott hinordnen" lassen, weil sie in
radikalem Widerspruch zum Gut der nach seinem Bild geschaffenen Person stehen.
Es sind dies die Handlungen, die in der moralischen Überlieferung der Kirche "in
sich schlecht" (intrinsece malum), genannt wurden: Sie sind immer und an und für
sich schon schlecht, d.h. allein schon aufgrund ihres Objektes, unabhängig von
den weiteren Absichten des Handelnden und den Umständen. Darum lehrt die Kirche
- ohne im geringsten den Einfluß zu leugnen, den die Umstände und vor allem die
Absichten auf die Sittlichkeit haben -, daß "es Handlungen gibt, die durch sich
selbst und in sich, unabhängig von den Umständen, wegen ihres Objekts immer
schwerwiegend unerlaubt sind".131
Das Zweite Vatikanische Konzil bietet im Zusammenhang mit der Achtung, die der
menschlichen Person gebührt, eine ausführliche Erläuterung solcher
Handlungsweisen anhand von Beispielen: "Was zum Leben selbst in Gegensatzsteht,
wie jede Art von Mord, Völkermord, Abtreibung, Euthanasie und auch der
freiwillige Selbstmord; was immer die Unantastbarkeit der menschlichen Person
verletzt, wie Verstümmelung, körperliche oder seelische Folter und der Versuch,
psychischen Zwang auszuüben; was immer die menschliche Würde angreift, wie
unmenschliche Lebensbedingungen, willkürliche Verhaftung, Verschleppung,
Sklaverei, Prostitution, Mädchenhandel und Handel mit Jugendlichen, sodann auch
unwürdige Arbeitsbedingungen, bei denen der Arbeiter als bloßes Erwerbsmittel
und nicht als freie und verantwortliche Person behandelt wird: all diese und
andere ähnliche Taten sind an sich schon eine Schande; sie sind eine Zersetzung
der menschlichen Kultur, entwürdigen weit mehr jene, die das Unrecht tun, als
jene, die es erleiden. Zugleich sind sie in höchstem Maße ein Widerspruch gegen
die Ehre des Schöpfers".132
Über die in sich sittlich schlechten Handlungen und im Blick auf
kontrazeptive Praktiken, mittels derer vorsätzlich unfruchtbar gemacht wird,
lehrt Papst Paul VI.: "Wenn es auch in der Tat zuweilen erlaubt ist, ein
sittliches Übel hinzunehmen, in der Absicht, damit ein größeres Übel zu
verhindern oder ein höheres sittliches Gut zu fördern, ist es doch nicht
erlaubt, nicht einmal aus sehr schwerwiegenden Gründen, das sittlich Schlechte
zu tun, damit daraus das Gute hervorgehe (vgl. Röm 3,8), d.h. etwas zum
Gegenstand eines positiven Willensaktes zu machen, was an sich Unordnung besagt
und daher der menschlichen Person unwürdig ist, auch wenn es in der Absicht
geschieht, Güter der Person, der Familie oder der Gesellschaft zu schützen oder
zu fördern".133
81. Wenn die Kirche das Bestehen "in sich schlechter"
Handlungen lehrt, greift sie die Lehre der Heiligen Schrift auf. Der Apostel
stellt kategorisch fest: "Täuscht euch nicht! Weder Unzüchtige noch
Götzendiener, weder Ehebrecher noch Lustknaben, noch Knabenschänder, noch Diebe,
noch Habgierige, keine Trinker, keine Lästerer, keine Räuber werden das Reich
Gottes erben" (1 Kor 6,9-10).
Wenn die Akte in sich schlecht sind, können eine gute Absicht oder besondere
Umstände ihre Schlechtigkeit zwar abschwächen, aber nicht aufheben: Sie sind
"irreparabel" schlechte Handlungen, die an und für sich und in sich nicht auf
Gott und auf das Gut der menschlichen Person hinzuordnen sind: "Wer würde es im
Hinblick auf die Handlungen, die durch sich selbst Sünden sind (cum iam opera
ipsa peccata sunt) - schreibt der hl. Augustinus -, wie Diebstahl, Unzucht,
Gotteslästerung, zu behaupten wagen, sie wären, wenn sie aus guten Motiven
(causis bonis) vollbracht würden, nicht mehr Sünden oder, eine noch absurdere
Schlußfolgerung, sie wären gerechtfertigte Sünden?".134
Darum können die Umstände oder die Absichten niemals einen bereits in sich
durch sein Objekt sittenlosen Akt in einen "subjektiv" sittlichen oder als Wahl
vertretbaren Akt verwandeln.
82. Im übrigen ist die Absicht dann gut, wenn sie auf das
wahre Gut der Person im Blick auf ihr letztes Ziel gerichtet ist. Die Handlungen
aber, die sich aufgrund ihres Objektes nicht auf Gott "hinordnen" lassen und
"der menschlichen Person unwürdig" sind, stehen diesem Gut immer und in jedem
Fall entgegen. In diesem Sinne bedeutet die Beachtung der Normen, die solche
Handlungen verbieten und semper et pro semper, das heißt ausnahmslos,
verpflichten, nicht nur keine Beschränkung für die gute Absicht, sondern sie ist
geradezu der fundamentale Ausdruck guter Absicht.
Die Lehre vom Objekt als Quelle der Sittlichkeit ist authentische
Ausdrucksform der biblischen Moral des Bundes und der Gebote, der Liebe und der
Tugenden. Die sittliche Qualität menschlichen Handelns hängt von dieser Treue zu
den Geboten ab, die Ausdruck von Gehorsam und Liebe ist. Und deshalb - wir
wiederholen es noch einmal - muß die Meinung als irrig zurückgewiesen werden, es
sei unmöglich, die bewußte Wahl einiger Verhaltensweisen bzw. konkreter
Handlungen ihrer Spezies nach als sittlich schlecht zu bewerten, ohne die
Absicht, aufgrund welcher diese Wahl vollzogen wurde, oder ohne die Gesamtheit
der vorhersehbaren Folgen jener Handlung für alle betroffenen Personen zu
berücksichtigen. Ohne diese Vernunftbestimmtheit der sittlichen Qualität
menschlichen Handelns wäre es unmöglich, eine öbjektive sittliche Ordnung"135
anzunehmen und irgendeine von inhaltlichen Gesichtspunkten bestimmte Norm
festzulegen, die ausnahmslos verpflichtet; und das zum Schaden der
Brüderlichkeit unter den Menschen und der Wahrheit über das Gute und ebenso zum
Nachteil der kirchlichen Gemeinschaft.
83. Im Problem der Sittlichkeit des menschlichen Handelns
und besonders in der Frage nach der Existenz in sich schlechter Handlungen
konzentriert sich, wie man sieht, gewissermaßen die Frage nach dem Menschen
selbst, nach seiner Wahrheit und den sich daraus ergebenden sittlichen
Konsequenzen. Dadurch, daß die Kirche anerkennt und lehrt, daß es konkret
bestimmbare menschliche Handlungen gibt, die in sich schon schlecht sind, bleibt
sie der vollen Wahrheit über den Menschen treu und achtet und fördert ihn damit
in seiner Würde und Berufung. Sie muß infolgedessen die oben dargelegten
Theorien, die dieser Wahrheit zuwiderlaufen, zurückweisen.
Brüder im Bischofsamt, wir dürfen uns jedoch nicht nur dabei aufhalten, die
Gläubigen über die Irrtümer und Gefahren einiger ethischer Theorien zu belehren.
Wir müssen vor allem den faszinierenden Glanz jener Wahrheit aufzeigen, die
Jesus Christus selber ist. In ihm, der die Wahrheit ist (vgl. Joh 14,6), vermag
der Mensch vermittels seiner guten Taten seine Berufung zur Freiheit im Gehorsam
gegenüber dem göttlichen Gesetz, das im Gebot der Gottes- und der Nächstenliebe
zusammengefaßt ist, voll zu begreifen und vollkommen zu leben. Und das alles
geschieht durch die Gabe des Heiligen Geistes, des Geistes der Wahrheit, der
Freiheit und der Liebe: In ihm ist es uns gegeben, uns das Gesetz zu eigen zu
machen und es als Treibkraft wahrer persönlicher Freiheit zu begreifen und zu
leben. "Das vollkommene Gesetz ist das Gesetz der Freiheit" (Jak 1,25).
Kapitel III
"Damit das Kreuz Christi nicht um seine Kraft gebracht wird"
(1 Kor 1,17)
Das sittlich Gute für das Leben der Kirche und der Welt
"Zur Freiheit hat uns Christus befreit" (Gal 5,1)
84. Die grundlegende Frage, die die oben erwähnten
Moraltheorien mit besonderer Eindringlichkeit stellen, ist die nach der
Beziehung zwischen der Freiheit des Menschen und dem Gesetz Gottes,
letztendlich die Frage nach der Beziehung zwischen Freiheit und Wahrheit.
Gemäß christlichem Glauben und der Lehre der Kirche führt "nur die Freiheit,
die sich der Wahrheit unterwirft, die menschliche Person zu ihrem wahren Wohl.
Das Wohl der Person besteht darin, sich in der Wahrheit zu befinden und die
Wahrheit zu tun".136
Die Konfrontation zwischen der Position der Kirche und der heutigen
gesellschaftlichen und kulturellen Situation deckt unmittelbar die dringende
Notwendigkeit auf, daß gerade im Hinblick auf diese grundlegende Frage von
seiten der Kirche selbst eine intensive Pastoralarbeit entwickelt werden muß:
"Dieser wesentliche Zusammenhang zwischen der Wahrheit, dem Guten und der
Freiheit ist der modernen Kultur größtenteils abhanden gekommen, und darum
besteht heute eine der besonderen Forderungen an die Sendung der Kirche zur
Rettung der Welt darin, den Menschen zur Wiederentdeckung dieses Zusammenhanges
zu führen. Die Frage des Pilatus: "Was ist Wahrheit?" wird auch heute an der
trostlosen Ratlosigkeit eines Menschen sichtbar, der häufig nicht mehr weiß, wer
er ist, woher er kommt und wohin er geht. Und so erleben wir nicht selten das
erschreckende Abgleiten der menschlichen Person in Situationen einer
fortschreitenden Selbstzerstörung. Wollte man gewissen Stimmen Gehör schenken,
so scheint man nicht mehr die unzerstörbare Absolutheit auch nur eines einzigen
sittlichen Wertes anerkennen zu dürfen. Allen Augen offenkundig ist die
Verachtung des empfangenen und noch ungeborenen menschlichen Lebens; die
ständige Verletzung der Grundrechte der Person; die ungerechte Zerstörung der
für ein wirklich menschliches Leben notwendigen Güter. Ja, es ist noch viel
Bedenklicheres geschehen: Der Mensch ist nicht mehr davon überzeugt, allein in
der Wahrheit das Heil finden zu können. Die rettende, heilbringende Kraft des
Wahren wird angefochten, und allein der - freilich jeder Objektivität beraubten
- Freiheit wird die Aufgabe zugedacht, autonom zu entscheiden, was gut und was
böse ist. Dieser Relativismus führt auf theologischem Gebiet zum Mißtrauen in
die Weisheit Gottes, die den Menschen durch das Sittengesetz leitet. Den Geboten
des Sittengesetzes stellt man die sogenannten konkreten Situationen entgegen,
weil man im Grunde nicht mehr daran festhält, daß das Gesetz Gottes immer das
einzige wahre Gut des Menschen ist".137
85. Die Aufgabe der prüfenden Unterscheidung von seiten der
Kirche angesichts dieser ethischen Theorien beschränkt sich nicht auf deren
Entlarvung und Ablehnung, sondern zielt darauf ab, allen Gläubigen mit großer
Liebe bei der Formung eines sittlichen Gewissens beizustehen, das zu urteilen
und zu wahrheitsgemäßen Entscheidungen zu führen vermag, wie der Apostel Paulus
mahnend schreibt: "Gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern wandelt euch und
erneuert euer Denken, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes
ist: was ihm gefällt, was gut und vollkommen ist" (Röm 12,2). Ihren festen Halt
- ihr pädagogisches "Geheimnis" - findet diese Arbeit der Kirche nicht so sehr
in den Lehraussagen und pastoralen Aufrufen zur Wachsamkeit als vielmehr darin,
daß sie den Blick unverwandt auf den Herrn Jesus richtet. So blickt die Kirche
Tag für Tag mit unermüdlicher Liebe auf Christus, da sie sich völlig bewußt ist,
daß allein bei ihm die wahre und endgültige Antwort auf die sittlichen
Fragestellungen liegt.
Besonders im gekreuzigten Jesus findet sie die Antwort auf die Frage, die
heute so viele Menschen quält: Wie nur kann der Gehorsam gegenüber den
allgemeinen und unveränderlichen sittlichen Normen die Einmaligkeit und
Unwiederholbarkeit respektieren und nicht ein Angriff auf ihre Freiheit und
Würde werden? Die Kirche macht sich jene Gewissensauffassung zu eigen, die der
Apostel Paulus von der an ihn ergangenen Sendung hatte: "Denn Christus hat mich
... gesandt ..., das Evangelium zu verkünden, aber nicht mit gewandten und
klugen Worten, damit das Kreuz Christi nicht um seine Kraft gebracht wird ...
Wir verkündigen Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein empörendes
Ärgernis, für Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber, Juden wie Griechen,
Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit" (1 Kor 1,17.23-24). Der gekreuzigte
Christus offenbart den authentischen Sinn der Freiheit, er lebt ihn in der Fülle
seiner totalen Selbsthingabe und beruft die Jünger, an dieser seiner Freiheit
teilzuhaben.
86. Vernünftige Überlegung und alltägliche Erfahrung zeigen
die Schwäche, von der die Freiheit des Menschen gezeichnet ist. Sie ist
wirkliche, aber begrenzte Freiheit: sie hat ihren absoluten und bedingungslosen
Ausgangspunkt nicht in sich selbst, sondern in der Existenz, innerhalb der sie
sich findet und die für sie gleichzeitig eine Grenze und eine Möglichkeit
darstellt. Es ist die Freiheit eines Geschöpfes, das heißt geschenkte Freiheit,
die als Keim empfangen und verantwortungsvoll zur Reife gebracht werden soll.
Sie gehört wesentlich zu jenem geschaffenen Ebenbild Gottes, das die Würde der
menschlichen Person begründet: in ihr hallt die ursprüngliche Berufung wider,
mit welcher der Schöpfer den Menschen zum wahren Gut und, mehr noch, mit der
Offenbarung Christi dazu berufen hat, durch Teilhabe am göttlichen Leben selbst
mit ihm in Freundschaft einzutreten. Sie ist zugleich unveräußerlicher
Eigenbesitz und umfassende Öffnung gegenüber jedem Seienden, indem sie aus sich
herausgeht, um den anderen kennenzulernen und zu lieben.138
Die Freiheit hat also ihre Wurzel in der Wahrheit vom Menschen und ihre
Zielbestimmung in der Gemeinschaft.
Vernunft und Erfahrung sprechen nicht nur von der Schwäche der menschlichen
Freiheit, sondern auch von ihrem Drama. Der Mensch entdeckt, daß seine Freiheit
rätselhafterweise dazu neigt, diese Öffnung für das Wahre und Gute zu
mißbrauchen und daß er es zu oft tatsächlich vorzieht, endliche, begrenzte und
vergängliche Güter zu wählen. Ja mehr noch, in den Irrtümern und negativen
Entscheidungen spürt der Mensch den Anfang einer radikalen Auflehnung, die ihn
die Wahrheit und das Gute zurückweisen läßt, um sich zum absoluten Prinzip
seiner selbst aufzuwerfen: "Ihr werdet Gott" (Gen 3,5). Die Freiheit muß also
befreit werden. Christus ist ihr Befreier: Er "hat uns zur Freiheit befreit"
(Gal 5,1).
87. Zunächst offenbart Christus, daß die ehrliche und
offene Anerkennung der Wahrheit die Bedingung einer authentischen Freiheit ist.
"Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen" (Joh
8,32).139 Die
Wahrheit macht frei gegenüber der Macht und verleiht die Kraft zum Martyrium. So
spricht es Jesus vor Pilatus aus: "Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt
gekommen, daß ich für die Wahrheit Zeugnis ablege" (Joh 18,37). So sollen die
wahren Anbeter Gottes diesen "im Geist und in der Wahrheit" anbeten (Joh 4,23):
durch diese Anbetung werden sie frei. Der Zusammenhang mit der Wahrheit und die
Anbetung Gottes werden in Jesus Christus als der tiefsten Wurzel der Freiheit
offenbar.
Des weiteren offenbart Jesus mit seiner eigenen Existenz und nicht bloß mit
Worten, daß sich die Freiheit in der Liebe, das heißt in der Selbsthingabe,
verwirklicht. Er, der sagt: "Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein
Leben für seine Freunde hingibt" (Joh 15,13), geht aus freien Stücken der
Passion entgegen (vgl. Mt 26,46) und gibt in seinem Gehorsam gegenüber dem Vater
am Kreuz sein Leben für alle Menschen hin (vgl. Phil 2,6-11). Auf diese Weise
ist die Betrachtung des gekreuzigten Jesus der königliche Weg, den die Kirche
Tag für Tag gehen muß, wenn sie den ganzen Sinn der Freiheit verstehen will: die
Selbsthingabe im Dienst an Gott und den Brüdern. Die Gemeinschaft mit dem
gekreuzigten und auferstandenen Herrn ist dann die unversiegbare Quelle, aus der
die Kirche unablässig schöpft, um in der Freiheit zu leben, sich hinzugeben und
zu dienen. In seinem Kommentar zu dem Vers aus dem 100. Psalm "Dient dem Herrn
mit Freude!" sagt der hl. Augustinus: "Im Hause des Herrn ist die Knechtschaft
frei. Frei, da nicht der Zwang, sondern die Liebe den Dienst auferlegt ... Die
Liebe mache dich zum Knecht (Diener), wie die Wahrheit dich frei gemacht hat ...
Du bist zugleich Diener und frei: Diener, weil du dazu geworden bist, frei, weil
du von Gott, deinem Schöpfer, geliebt wirst; ja, frei auch, weil es dir gegeben
ist, deinen Schöpfer zu lieben ... Du bist Diener des Herrn und du bist
Befreiter des Herrn. Suche nicht eine Freiheit, die dich fortträgt vom Hause
deines Befreiers!"140
Auf diese Weise ist die Kirche und jeder Christ in ihr dazu berufen,
teilzuhaben am Königtum Christi am Kreuz (vgl. Joh 12,32), an der Gnade und an
der Verantwortung des Menschensohnes, der "nicht gekommen ist, um sich dienen zu
lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele"
(Mt 20,28).141
Jesus ist also die lebendige und personifizierte Synthese von vollkommener
Freiheit und unbedingtem Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes. Sein
gekreuzigter Leib ist die volle Offenbarung der unlösbaren Bande zwischen
Freiheit und Wahrheit, so wie seine Auferstehung vom Tode die erhabenste
Verherrlichung der Fruchtbarkeit und heilbringenden Kraft einer in Wahrheit
gelebten Freiheit ist.
Im Licht wandeln (vgl. 1 Joh 1,7)
88. Die Gegenüberstellung, ja die radikale Trennung von
Freiheit und Wahrheit ist Folge, Äußerung und Vollendung einer anderen, noch
schwerwiegenderen und schädlicheren Dichotomie, die den Glauben von der Moral
trennt.
Diese Trennung ist Gegenstand einer der vordringlichsten pastoralen Sorgen
der Kirche im heutigen Säkularisierungsprozeß, in dem viele, allzu viele
Menschen denken und leben, äls ob es Gott nicht gäbe". Wir stehen einer
Mentalität gegenüber, die oft auf tiefgreifende, weitreichende Weise und bis in
die letzten Winkel der Gesellschaft hinein die Haltungen und Verhaltensweisen
sogar der Christen beeinflußt, deren Glaube dadurch entkräftet wird und seine
Ursprünglichkeit als eigenständiger Maßstab für das eigene Selbstverständnis und
das Handeln im persönlichen, familiären und gesellschaftlichen Leben verliert.
Die von denselben Gläubigen übernommenen Beurteilungs- und
Entscheidungskriterien stellen sich im Rahmen einer entchristlichten Kultur
tatsächlich oft so dar, als hätten sie mit den Kriterien des Evangeliums nichts
zu tun oder stünden sogar im Widerspruch zu ihnen.
Es ist nun dringend notwendig, daß die Christen die Eigenständigkeit ihres
Glaubens und ihre Urteilskraft gegenüber der herrschenden, ja sich aufdrängenden
Kultur wiederentdecken: "Denn einst wart ihr Finsternis - so belehrt uns der
Apostel Paulus -, jetzt aber seid ihr durch den Herrn Licht geworden. Lebt als
Kinder des Lichts! Das Licht bringt lauter Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit
hervor. Prüft, was dem Herrn gefällt, und habt nichts gemein mit den Werken der
Finsternis, die keine Frucht bringen, sondern deckt sie auf! ... Achtet also
sorgfältig darauf, wie ihr euer Leben führt, nicht töricht, sondern klug. Nutzt
die Zeit, denn diese Tage sind böse" (Eph 8,8-11.15-16; vgl. 1 Thess 5,4-8).
Es ist dringend notwendig, das wahre Antlitz des christlichen Glaubens
zurückzugewinnen und wieder bekannt zu machen; dies ist ja nicht lediglich eine
Summe von Aussagen, die mit dem Verstand angenommen und bestätigt werden müssen.
Er ist vielmehr eine gelebte Kenntnis von Christus, ein lebendiges Gedächtnis
seiner Gebote, eine Wahrheit, die gelebt werden muß. Ein Wort wird schließlich
nur dann wahrhaft angenommen, wenn es in die Handlungen übergeht, wenn es in die
Praxis umgesetzt wird. Der Glaube ist eine Entscheidung, die die gesamte
Existenz in Anspruch nimmt. Er ist Begegnung, Dialog, Liebes- und
Lebensgemeinschaft des Glaubenden mit Jesus Christus, der der Weg, die Wahrheit
und das Leben ist (vgl. Joh 14,6). Er schließt einen Akt des Vertrauens und der
Hingabe an Christus ein und gewährt uns zu leben, wie er gelebt hat (vgl. Gal
2,20), das heißt in der je größeren Liebe zu Gott und zu den Brüdern.
89. Der Glaube besitzt auch einen sittlichen Inhalt: er
schafft und verlangt ein konsequentes Engagement des Lebens, er unterstützt und
vollendet die Annahme und Einhaltung der göttlichen Gebote. Wie der Evangelist
Johannes schreibt, "Gott ist Licht, und keine Finsternis ist in ihm. Wenn wir
sagen, daß wir Gemeinschaft mit ihm haben, und doch in der Finsternis leben,
lügen wir und tun nicht die Wahrheit ... Wenn wir seine Gebote halten, erkennen
wir, daß wir ihn erkannt haben. Wer sagt: Ich habe ihn erkannt, aber seine
Gebote nicht hält, ist ein Lügner, und die Wahrheit ist nicht in ihm. Wer sich
aber an sein Wort hält, in dem ist die Gottesliebe wahrhaft vollendet. Wir
erkennen daran, daß wir in ihm sind. Wer sagt, daß er in ihm bleibt, muß auch
leben, wie er gelebt hat" (1 Joh 1,5-6; 2,3-6).
Durch das sittliche Leben wird der Glaube zum "Bekenntnis", und das nicht nur
vor Gott, sondern auch vor den Menschen: es wird ein Zeugnis abgelegt. "Ihr seid
das Licht der Welt - hat Jesus gesagt -. Eine Stadt, die auf einem Berg liegt,
kann nicht verborgen bleiben. Man zündet auch nicht ein Licht an und stülpt ein
Gefäß darüber, sondern man stellt es auf den Leuchter; dann leuchtet es allen im
Haus. So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke
sehen und euren Vater im Himmel preisen" (Mt 5,14-16). Das sind vor allem jene
der Nächstenliebe (vgl. Mt 25,31-46) und der wahren Freiheit, die sich in der
Selbsthingabe kundtut und lebt. Bis zur völligen Selbsthingabe, wie es Jesus
getan hat, der am Kreuz "die Kirche geliebt und sich für sie hingegeben hat"
(Eph 5,25). Das Zeugnis Christi ist Quelle und Maß (Paradigma) für das Zeugnis
des Jüngers, der aufgerufen ist, denselben Weg einzuschlagen: "Wer mein Jünger
sein will, der verleugne sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf sich und
folge mir nach" (Lk 9,23). Dem Anspruch des evangelischen Radikalismus
entsprechend kann die Liebe den Glaubenden zum äußersten Zeugnis des Martyriums
bringen. Über das Vorbild des am Kreuz sterbenden Jesus schreibt Paulus an die
Christen von Ephesus: Ähmt Gott nach als seine geliebten Kinder und liebt
einander, weil auch Christus uns geliebt und sich für uns hingegeben hat als
Gabe und als Opfer, das Gott gefällt" (Eph 5,1-2).
Das Martyrium, Verherrlichung der unverletzlichen Heiligkeit
des Gesetzes
Gottes
90. In der bedingungslosen Achtung gegenüber jenen
unaufgebbaren Forderungen, die sich aus der Personwürde eines jeden Menschen
ergeben, jenem von den sittlichen Normen verteidigten Anspruch, welche die in
sich schlechten Handlungen ausnahmslos verbieten, erstrahlt die Beziehung
zwischen Glaube und Moral in ihrem ganzen Glanz. Die Universalität und
Unwandelbarkeit der sittlichen Norm machen die Würde der Person, das heißt die
Unverletzlichkeit des Menschen, auf dessen Antlitz der Glanz Gottes erstrahlt,
offenbar und stellen sich gleichzeitig in den Dienst ihres Schutzes (vgl. Gen
9,5-6).
Die Unannehmbarkeit der "teleologischen", "konsequenzialistischen" und
"proportionalistischen" ethischen Theorien, die die Existenz negativer,
bestimmte Verhaltensweisen betreffender sittlicher, ausnahmslos geltender
Normen leugnen, findet beredte Bestätigung im Faktum des christlichen
Martyriums, das das Leben der Kirche stets begleitet hat und noch immer
begleitet.
91. Bereits im Alten Bund begegnen wir eindrucksvollen
Zeugnissen einer Treue zum heiligen Gesetz Gottes, die mit der freiwilligen
Annahme des Todes bezahlt wurde. Beispielhaft ist die Geschichte der Susanna:
Den beiden ungerechten Richtern, die sie für den Fall, daß sie sich geweigert
hätte, ihrem unreinen Begehren zu Willen zu sein, mit dem Tode bedrohten,
antwortete sie: "Ich bin bedrängt von allen Seiten: Wenn ich es tue, so droht
mir der Tod; tue ich es aber nicht, so werde ich euch nicht entrinnen. Es ist
besser für mich, es nicht zu tun und euch in die Hände zu fallen, als gegen den
Herrn zu sündigen!" (Dan 13,22-23). Susanna, die es vorzieht, ünschuldig" in die
Hände der Richter zu fallen, bezeugt nicht nur ihren Glauben und ihr
Gottvertrauen, sondern auch ihren Gehorsam gegenüber der Wahrheit und der
Absolutheit der sittlichen Ordnung: durch ihre Bereitschaft, das Martyrium auf
sich zu nehmen, bekundet sie, daß es nicht recht ist, das zu tun, was das
göttliche Gesetz als Übel bewertet, um dadurch irgendein Gut zu erlangen. Sie
wählt für sich den "besseren Teil": ein ganz klares und kompromißloses Zeugnis
für die Wahrheit des Guten und für den Gott Israels; so tut sie in ihren
Handlungen die Heiligkeit Gottes kund.
An der Schwelle zum Neuen Testament weigerte sich Johannes der Täufer, das
Gesetz des Herrn zu verschweigen und mit dem Bösen zu paktieren, "er opferte
sein Leben für die Gerechtigkeit und die Wahrheit"142
und wurde so auch als Märtyrer Vorläufer des Messias (vgl. Mk 6,17-29).
Deswegen "wurde derjenige in das Dunkel des Kerkers eingeschlossen, der gekommen
war, um von dem Licht Zeugnis zu geben, und der von eben diesem Licht, das
Christus ist, gewürdigt wurde, Licht, das im Dunkel leuchtet, genannt zu werden.
Und im eigenen Blut wurde derjenige getauft, dem es zuteil geworden war, den
Erlöser der Welt zu taufen".143
Im Neuen Bund begegnen wir zahlreichen Zeugnissen von Jesu Jüngern,
angefangen mit dem Diakon Stefanus (vgl. Apg 6,8-7,70) und dem Apostel Jakobus
(vgl. Apg 12,1-2), die als Märtyrer starben, um ihren Glauben und ihre Liebe zum
Erlöser zu bezeugen und um ihn nicht zu verleugnen. Darin sind sie dem Herrn
Jesus gefolgt, der vor Kajaphas und Pilatus "das gute Bekenntnis abgelegt" hat
(1 Tim 6,13), und haben die Wahrheit seiner Botschaft durch die Hingabe ihres
Lebens bestätigt. Zahllose andere Märtyrer nahmen eher die Verfolgungen und den
Tod auf sich, als die götzendienerische Tat zu begehen und vor dem Standbild des
Kaisers Weihrauch zu verbrennen (vgl. Offb 13). Sie lehnten es sogar ab, einen
derartigen Kult vorzutäuschen und gaben damit das Beispiel für die sittliche
Verpflichtung, sich auch nur einer einzigen konkreten Verhaltensweise zu
enthalten, wenn sie der Liebe Gottes und dem Zeugnis des Glaubens widerspräche.
In ihrem Gehorsam vertrauten sie, wie Christus selbst, ihr Leben dem Vater an
und stellten es ihm anheim, der sie vom Tod zu befreien vermochte (vgl. Hebr
5,7).
Die Kirche legt das Beispiel zahlreicher Heiliger vor, die die sittliche
Wahrheit gepredigt und bis zum Martyrium verteidigt oder den Tod einer einzigen
Todsünde vorgezogen haben. Indem die Kirche sie zur Ehre der Altäre erhob, hat
sie ihr Zeugnis bestätigt und ihre Überzeugung für richtig erklärt, wonach die
Liebe zu Gott auch unter den schwierigsten Umständen die Einhaltung seiner
Gebote und die Weigerung, sie zu verraten - und sei es auch mit der Absicht, das
eigene Leben zu retten - verbindlich einschließt.
92. Als Bekräftigung der Unverbrüchlichkeit der sittlichen
Ordnung kommen im Martyrium die Heiligkeit des Gesetzes Gottes und zugleich die
Unantastbarkeit der persönlichen Würde des nach dem Abbild und Gleichnis Gottes
geschaffenen Menschen zum Leuchten: Es ist eine Würde, die niemals, und sei es
auch aus guter Absicht, herabgesetzt oder verstellt werden darf, wie auch immer
die Schwierigkeiten aussehen mögen. Mahnend gibt uns Jesus mit größter Strenge
zu bedenken: "Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt,
dabei aber seine Seele verliert?" (Mk 8,36).
Das Martyrium entlarvt jeden Versuch, einer in sich schlechten Handlung, und
sei es auch unter Äusnahme"-Bedingungen, einen "humanen Sinn" verleihen zu
wollen, als illusorisch und falsch; mehr noch, es enthüllt offen das wahre
Gesicht der sittlich schlechten Handlung: sie ist eine Verletzung der
"Menschlichkeit" des Menschen, und zwar mehr noch bei dem, der das Unrecht
begeht, als bei dem, der es erleidet.144
Das Martyrium ist daher auch Verherrlichung des vollkommenen "Menschseins" und
des wahren "Lebens" der menschlichen Person, wie der hl. Ignatius von Antiochien
bezeugt, als er sich an die Christen Roms, des Ortes seines Martyriums, wendet:
"Habt Mitleid mit mir, Brüder: Hindert mich nicht daran zu leben, wünscht nicht,
daß ich sterbe ... Laßt mich zum reinen Licht gelangen; wenn ich dorthin gelangt
bin, werde ich wahrhaft Mensch sein. Laßt mich das Leiden und Sterben meines
Gottes nachahmen".145
93. Das Martyrium ist schließlich ein leuchtendes Zeichen
der Heiligkeit der Kirche: die mit dem Tod bezeugte Treue zum heiligen Gesetz
Gottes ist feierliches Zeugnis und missionarischer Einsatz usque ad sanguinem,
auf daß nicht der Glanz der sittlichen Wahrheit in den Gewohnheiten und
Denkweisen der Menschen und der Gesellschaft um seine Leuchtkraft gebracht
werde. Ein solches Zeugnis bietet einen außerordentlich wertvollen Beitrag,
damit man - nicht nur in der bürgerlichen Gesellschaft, sondern auch imerhalb
der kirchlichen Gemeinschaften - nicht in die gefährlichste Krise gerät, die den
Menschen überhaupt heimsuchen kann: die Verwirrung in bezug auf Gut und Böse,
was den Aufbau und die Bewahrung der sittlichen Ordnung der einzelnen und der
Gemeinschaften unmöglich macht. Die Märtyrer und, im weiteren Sinne, alle
Heiligen der Kirche erleuchten durch das beredte und faszinierende Beispiel
eines ganz von dem Glanz der sittlichen Wahrheit umgeformten Lebens jede Epoche
der Geschichte durch das Wiederbeleben des sittlichen Empfindens. Durch ihr
hervorragendes Zeugnis für das Gute sind sie ein lebendiger Vorwurf für all
jene, die das Gesetz überschreiten (vgl. Weish 2,12), und lassen in ständiger
Aktualität die Worte des Propheten neu erklingen: "Weh euch, die ihr das Böse
gut und das Gute böse nennt, die ihr die Finsternis zum Licht und das Licht zur
Finsternis macht, die ihr das Bittere süß macht und das Süße bitter" (Jes 5,20).
Wenn das Martyrium den Höhepunkt des christlichen Zeugnisses für die
sittliche Wahrheit bildet, zu dem nur vergleichsweise wenige berufen sein
können, so gibt es dennoch ein kohärentes Zeugnis, das alle Christen täglich zu
geben bereit sein sollen, auch auf Kosten von Leiden und schweren Opfern. In der
Tat ist der Christ angesichts der vielfältigen Schwierigkeiten, welche die Treue
zur Unbedingtheit der sittlichen Ordnung auch unter den gewöhnlichsten Umständen
verlangen kann, mit der im Gebet erflehten göttlichen Gnade zu mitunter
heroischem Bemühen aufgerufen, wobei ihn die Tugend des Starkmutes stützen wird,
mit deren Hilfe er - wie der heilige Gregor der Große lehrt - sogar "die
Schwierigkeiten dieser Welt im Blick auf den ewigen Siegespreis lieben kann".146
94. In diesem Zeugnis für die Unbedingtheit des sittlich
Guten stehen die Christen nicht allein: Sie finden Bestätigung im sittlichen
Bewußtsein der Völker und in den großen Traditionen der Religions- und
Geistesgeschichte des Abendlandes und des Orients, nicht ohne beständiges und
geheimnisvolles Wirken des Geistes Gottes. Für alle gelte der Ausspruch des
lateinischen Dichters Juvenal: "Betrachte es als das allergrößte Vergehen, das
eigene Überleben dem Ehrgefühl vorzuziehen und aus Liebe zum leiblichen Leben
die eigentlichen Gründe des Lebens zu verlieren".147
Die Stimme des Gewissens hat stets unmißverständlich darauf hingewiesen, daß es
sittliche Wahrheiten und Werte gibt, für die man das Leben hinzugeben bereit
sein müsse. Im Wort und vor allem im Opfer des Lebens für den sittlichen Wert
anerkennt die Kirche eben das Zeugnis für jene bereits in der Schöpfung
vorhandene Wahrheit, die auf dem Antlitz Christi voll erstrahlt: "Wir wissen -
schreibt der hl. Justinus - daß die Anhänger der stoischen Lehre gehaßt und
getötet wurden, da sie - wie auch zuweilen die Dichter - zumeist in ihren
Äußerungen über Fragen der Moral, den Beweis der Wahrheit geliefert haben,
aufgrund des Keimes des göttlichen Logos, der dem ganzen Menschengeschlecht
eingepflanzt ist".148
Die allgemeinen und unveränderlichen sittlichen Normen im Dienst der
menschlichen Person und der Gesellschaft
95. Die Lehre der Kirche und insbesondere ihre Festigkeit
in der Verteidigung der universalen und dauernden Geltung der sittlichen
Gebote, die die in sich schlechten Handlungen verbieten, werden nicht selten
als Zeichen einer unerträglichen Unnachgiebigkeit kritisiert, vor allem
angesichts enorm komplexer und konfliktanfälliger Situationen des heutigen
Lebens des einzelnen und der Gesellschaft: eine Unnachgiebigkeit, die zu einem
mütterlichen Empfinden der Kirche im Widerspruch stünde. Diese lasse es, so sagt
man, an Verständnis und Barmherzigkeit fehlen. Aber in Wahrheit kann die
Mütterlichkeit der Kirche niemals von ihrem Sendungsauftrag als Lehrerin
abgetrennt werden, den sie als treue Braut Christi, der die Wahrheit in Person
ist, immer ausführen muß: Äls Lehrerin wird sie nicht müde, die sittliche Norm
zu verkünden ... Diese Norm ist nicht von der Kirche geschaffen und nicht ihrem
Gutdünken überlassen. In Gehorsam gegen die Wahrheit, die Christus ist, dessen
Bild sich in der Natur und der Würde der menschlichen Person spiegelt,
interpretiert die Kirche die sittliche Norm und legt sie allen Menschen guten
Willens vor, ohne ihren Anspruch auf Radikalität und Vollkommenheit zu
verbergen".149
Wahrhaftes Verständnis und echte Barmherzigkeit bedeuten in Wirklichkeit
Liebe zur menschlichen Person, zu ihrem wahren Wohl, zu ihrer authentischen
Freiheit. Und dies kommt gewiß nicht dadurch zustande, daß man die sittliche
Wahrheit verbirgt oder abschwächt, sondern indem man sie in ihrer tiefen
Bedeutung als Ausstrahlung der ewigen Weisheit Gottes, die uns in Christus
erreicht, und als Dienst am Menschen, am Wachstum seiner Freiheit und an der
Erreichung seiner Seligkeit darlegt.150
Ebenso kann die klare und kraftvolle Darstellung der sittlichen Wahrheit
niemals von einem tiefen und aufrichtigen, von geduldiger und vertrauensvoller
Liebe geprägten Respekt absehen, dessen der Mensch auf seinem moralischen Weg
bedarf, welcher sich oft wegen Schwierigkeiten, Schwäche und schmerzhafter
Situationen als mühsam erweist. Die Kirche kann niemals von dem "Grundsatz der
Wahrheit und der Folgerichtigkeit" absehen, aufgrund dessen sie "es nicht
duldet, gut zu nennen, was böse ist, und böse, was gut ist".151
Paul VI. hat geschrieben: "Es ist eine hervorragende Form der Liebe zu den
unsterblichen Seelen, wenn man in keiner Weise Abstriche von der heilsamen Lehre
Christi macht. Dies jedoch muß immer von Geduld und Liebe begleitet sein, für
die der Herr selbst in seinem Umgang mit den Menschen ein Beispiel gegeben hat.
Er ist gekommen, nicht um zu richten, sondern um zu retten (vgl. Joh 3,17); ganz
sicher war er unversöhnlich mit der Sünde, aber er war barmherzig mit dem
Sünder". 152
96. Die Festigkeit der Kirche bei der Verteidigung der
universalen und unveränderlichen sittlichen Normen hat nichts Unterdrückendes an
sich. Sie dient einzig und allein der wahren Freiheit des Menschen: Da es
außerhalb der Wahrheit oder gegen sie keine Freiheit gibt, muß die kategorische,
das heißt unnachgiebige und kompromißlose Verteidigung des absolut
unverzichtbaren Erfordernisses der personalen Würde des Menschen Weg und sogar
Existenzbedingung für die Freiheit genannt werden.
Dieser Dienst wendet sich an jeden Menschen, insofern er in der
Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit seines Seins und seiner Existenz gesehen
wird. Nur im Gehorsam gegenüber den universalen sittlichen Normen findet der
Mensch eine volle Bestätigung der Einzigartigkeit seiner Person und die
Möglichkeit wirklichen sittlichen Wachstums. Und eben darum wendet sich dieser
Dienst an alle Menschen: nicht nur an die einzelnen, sondern auch an die
Gemeinschaft, an die Gesellschaft als solche. Diese Normen bilden in der Tat das
unerschütterliche Fundament und die zuverlässige Gewähr für ein gerechtes und
friedliches menschliches Zusammenleben und damit für eine echte Demokratie, die
nur auf der Gleichheit aller ihrer, in den Rechten und Pflichten vereinten
Mitglieder entstehen und wachsen kann. Im Hinblick auf die sittlichen Normen,
die das in sich Schlechte verbieten, gibt es für niemanden Privilegien oder
Ausnahmen. Ob einer der Herr der Welt oder der Letzte, "Elendeste" auf Erden
ist, macht keinen Unterschied: Vor den sittlichen Ansprüchen sind wir alle
absolut gleich.
97. So erschließen die sittlichen Normen, und an erster
Stelle jene negativen, die das Tun des Schlechten verbieten, ihre Bedeutung und
ihre zugleich personale und soziale Kraft: indem sie die unverletzliche
Personwürde jedes Menschen schützen, dienen sie der Erhaltung des menschlichen
Sozialgefüges und seiner richtigen und fruchtbaren Entwicklung. Besonders die
Gebote der zweiten Tafel des Dekalogs, an die auch Jesus den jungen Mann im
Evangelium erinnert (vgl. Mt 19,18), stellen die Grundregeln jedes
gesellschaftlichen Lebens dar.
Diese Gebote werden in allgemeinen Worten formuliert. Aber die Tatsache, daß
Änfang, Träger und Ziel aller gesellschaftlichen Institutionen die menschliche
Person ist und auch sein muß",153
gestattet und ermöglicht ihre Präzisierung und Erläuterung in einem
ausführlicheren Verhaltenskodex. In diesem Sinne sind die sittlichen Grundregeln
des gesellschaftlichen Lebens mit bestimmten Forderungen verbunden, die sowohl
die öffentlichen Gewalten wie die Bürger befolgen müssen. Ungeachtet der
manchmal guten Absichten und der oft schwierigen Umstände sind die staatlichen
Amtsträger und die einzelnen Individuen niemals befugt, die unveräußerlichen
Grundrechte der menschlichen Person zu verletzen. Nur eine Moral, die Normen
anerkennt, die immer und für alle ohne Ausnahme gelten, kann darum das ethische
Fundament für das gesellschaftliche Zusammenleben sowohl auf nationaler wie auf
internationaler Ebene gewährleisten.
Die Moral und die Erneuerung des gesellschaftlichen und politischen Lebens
98. Angesichts der schwerwiegenden Formen sozialer und
wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und politischer Korruption, von denen ganze
Völker und Nationen heimgesucht werden, wächst die Empörung unzähliger mit Füßen
getretener und in ihren menschlichen Grundrechten gedemütigter Personen, und
immer verbreiteter und heftiger macht sich das Verlangen nach radikaler
persönlicher und gesellschaftlicher Erneuerung bemerkbar, die allein imstande
ist, Gerechtigkeit, Solidarität, Wahrhaftigkeit und Transparenz zu
gewährleisten.
Sicher bleibt noch ein langer und mühsamer Weg zurückzulegen; zahlreiche,
gewaltige Anstrengungen müssen unternommen werden, damit eine solche Erneuerung
verwirklicht werden kann; Grund dafür sind auch die Vielfalt und Schwere der
Ursachen, welche die heutigen ungerechten Zustände in der Welt erzeugen und
nähren. Aber wie die Geschichte und die Erfahrung jedes einzelnen lehren, kann
man unschwer an der Wurzel dieser Situationen eigentlich "kulturelle" Ursachen
entdecken, das heißt Ursachen, die mit bestimmten Auffassungen vom Menschen, von
der Gesellschaft und von der Welt zusammenhängen. Tatsächlich steht im
Mittelpunkt der kulturellen Frage das sittliche Empfinden, das seinerseits auf
dem religiösen Empfinden beruht und sich in ihm vollendet.154
99. Allein Gott, das höchste Gut, bildet die unverrückbare
Grundlage und unersetzbare Voraussetzung der Sittlichkeit, also der Gebote, im
besonderen jener negativen Gebote, die immer und auf jeden Fall die mit der
Würde jedes Menschen als Person unvereinbaren Verhaltensweisen und Handlungen
verbieten. So begegnen sich das höchste Gut und das sittlich Gute in der
Wahrheit: der Wahrheit über Gott, den Schöpfer und Erlöser, und der Wahrheit
über den von ihm geschaffenen und erlösten Menschen. Nur auf dem Boden dieser
Wahrheit ist es möglich, eine erneuerte Gesellschaft aufzubauen und die
komplizierten und drückenden Probleme, die sie erschüttern, zu lösen,
zuallererst jenes Problem der Überwindung der verschiedenen Formen von
Totalitarismus, um der authentischen Freiheit der Person den Weg zu ebnen. "Der
Totalitarismus entsteht aus der Verneinung der Wahrheit im objektiven Sinn: Wenn
es keine transzendente Wahrheit gibt, in deren Gefolge der Mensch zu seiner
vollen Identität gelangt, gibt es kein sicheres Prinzip, das gerechte
Beziehungen zwischen den Menschen gewährleistet. Ihr Klasseninteresse,
Gruppeninteresse und nationales Interesse bringt sie unweigerlich in Gegensatz
zueinander. Wenn die transzendente Wahrheit nicht anerkannt wird, dann
triumphiert die Gewalt der Macht und jeder trachtet, bis zum Äußersten von den
ihm zur Verfügung stehenden Mitteln Gebrauch zu machen, um ohne Rücksicht auf
die Rechte des anderen sein Interesse und seine Meinung durchzusetzen ... Die
Wurzel des modernen Totalitarismus liegt darum in der Verneinung der
transzendenten Würde des Menschen, der sichtbares Abbild des unsichtbaren Gottes
ist. Eben deshalb, aufgrund seiner Natur, ist er Träger von Rechten, die niemand
verletzen darf: weder der einzelne, noch die Gruppe, die Klasse, die Nation oder
der Staat. Auch die gesellschaftliche Mehrheit darf das nicht tun, indem sie
gegen eine Minderheit vorgeht, sie ausgrenzt, unterdrückt, ausbeutet oder sie zu
vernichten versucht".155
Deshalb besitzt der untrennbare Zusammenhang zwischen Wahrheit und Freiheit -
Ausdruck der wesenhaften Bande zwischen Weisheit und Willen Gottes - eine
äußerst wichtige Bedeutung für das Leben der Menschen im sozio-ökonomischen und
sozio-politischen Bereich. Das ergibt sich aus der Soziallehre der Kirche - die
"in den Bereich ... der Theologie und insbesondere der Moraltheologie gehört"156 - und
aus ihrer Darlegung von Geboten, die das gesellschaftliche, wirtschaftliche und
politische Leben nicht nur im Hinblick auf allgemeine Haltungen, sondern auch
auf genau bestimmte Verhaltensweisen und konkrete Handlungen regeln.
100. So betont der Katechismus der katholischen Kirche
zunächst, daß äuf wirtschaftlichem Gebiet die Achtung der Menschenwürde die
Tugend der Mäßigung erfordert, um die Anhänglichkeit an die Güter dieser Welt zu
zügeln; die Tugend der Gerechtigkeit, um die Rechte des Nächsten zu wahren und
ihm zu geben, was ihm zusteht; und die Solidarität gemäß der Goldenen Regel und
der Freigebigkeit des Herrn, denn ,er, der reich war, wurde euretwegen arm, um
euch durch seine Armut reich zu machen' (2 Kor 8,9)"157,
um dann eine Reihe von Verhaltensweisen und von Handlungen, die der
menschlichen Würde widersprechen, beim Namen zu nennen: Diebstahl, vorsätzliches
Zurückbehalten entliehener oder abhanden gekommener Gegenstände,
Geschäftsbetrug (vgl. Dtn 25,13-16), ungerechte Löhne (vgl. Dtn 24,14-15; Jak
5,4), Preiserhöhung durch Ausnützen der Unwissenheit und Not anderer (vgl. Am
8,4-6), Aneignung des Gesellschaftsvermögens eines Unternehmens zur privaten
Nutzung, schlecht durchgeführte Arbeiten, Steuerbetrug, Fälschung von Schecks
und Rechnungen, übermäßige Ausgaben, Verschwendung usw.158
Und weiter: "Das siebte Gebot verbietet Handlungen und Unternehmungen, die aus
irgendeinem Grund - aus Egoismus, wegen einer Ideologie, aus Profitsucht oder in
totalitärer Gesinnung - dazu führen, daß Menschen geknechtet, ihrer persönlichen
Würde beraubt oder wie Waren gekauft, verkauft oder ausgetauscht werden. Es ist
eine Sünde gegen ihre Menschenwürde und ihre Grundrechte, sie gewaltsam zur
bloßen Gebrauchsware oder zur Quelle des Profits zu machen. Der hl. Paulus
befahl einem christlichen Herrn, seinen christlichen Sklaven ,nicht mehr als
Sklaven, sondern als weit mehr: als geliebten Bruder' zu behandeln (Phlm 16)".159
101. Im politischen Bereich gilt es hervorzuheben, daß
Wahrhaftigkeit in den Beziehungen zwischen Regierenden und Regierten,
Transparenz in der öffentlichen Verwaltung, Unparteilichkeit im Dienst am
Staat, Achtung der Rechte auch der politischen Gegner, Schutz der Rechte der
Angeklagten gegen summarische Verfahren und Verurteilungen, richtige und
gewissenhafte Verwendung der öffentlichen Gelder, Ablehnung zweifelhafter oder
unerlaubter Mittel, um die Macht um jeden Preis zu erobern, festzuhalten und zu
vermehren, Prinzipien sind, die ihre erste Wurzel - wie auch ihre einzigartige
Dringlichkeit - im transzendenten Wert der Person und in den objektiven
sittlichen Erfordernissen für das Funktionieren der Staaten haben.160
Wenn sie nicht eingehalten werden, zerbricht das Fundament des politischen
Zusammenlebens, und das ganze gesellschaftliche Leben wird dadurch
fortschreitend beeinträchtigt, bedroht und der Auflösung preisgegeben (vgl. Ps
14,3-4; Offb 18,2-3.9-24). Nach dem Niedergang der Ideologien in vielen Ländern,
die die Politik mit einem totalitären Weltbild verbanden - unter ihnen vor allem
der Marxismus -, zeichnet sich heute eine nicht weniger ernste Gefahr ab
angesichts der Verneinung der Grundrechte der menschlichen Person und der
Auflösung der im Herzen jedes Menschenwesens wohnenden religiösen Frage in
politische Kategorien: Es ist die Gefahr der Verbindung zwischen Demokratie und
ethischem Relativismus, die dem bürgerlichen Zusammenleben jeden sicheren
sittlichen Bezugspunkt nimmt, ja mehr noch, es der Anerkennung von Wahrheit
beraubt. Denn "wenn es keine letzte Wahrheit gibt, die das politische Handeln
leitet und ihm Orientierung gibt, dann können die Ideen und Überzeugungen leicht
für Machtzwecke mißbraucht werden. Eine Demokratie ohne Werte verwandelt sich,
wie die Geschichte beweist, leicht in einen offenen oder hinterhältigen
Totalitarismus".161
In allen Bereichen des persönlichen, familiären, gesellschaftlichen und
politischen Lebens leistet also die Moral - die sich auf die Wahrheit gründet
und sich in der Wahrheit der authentischen Freiheit öffnet - nicht nur dem
einzelnen Menschen und seinem Wachstum im Guten, sondern auch der Gesellschaft
und ihrer wahren Entwicklung einen ursprünglichen, unersetzlichen und äußerst
wertvollen Dienst.
Gnade und Gehorsam gegenüber dem Gesetz Gottes
102. Auch in den schwierigsten Situationen muß der Mensch
die sittlichen Normen beachten, um den heiligen Geboten Gottes gehorsam und in
Übereinstimmung mit der eigenen Personenwürde zu sein. Sicherlich verlangt die
Harmonie zwischen Freiheit und Wahrheit mitunter durchaus ungewöhnliche Opfer
und wird um einen hohen Preis erlangt: er kann auch das Martyrium einschließen.
Doch wie unsere allgemeine und tägliche Erfahrung beweist, ist der Mensch
versucht, diese Harmonie zu zerbrechen: "Ich tue nicht das, was ich will,
sondern das, was ich hasse ... Ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das
Böse, das ich nicht will" (Röm 7,15.19).
Woher rührt letztlich diese innere Spaltung des Menschen? Die Geschichte
seiner Schuld nimmt ihren Anfang, sobald er nicht mehr den Herrn als seinen
Schöpfer anerkennt und in vollkommener Unabhängigkeit selber darüber
entscheiden möchte, was gut und was böse ist. "Ihr werdet wie Gott und erkennt
Gut und Böse" (Gen 3,5): das ist die erste Versuchung, auf die alle anderen
Versuchungen folgen; ihnen nachzugeben, ist der Mensch aufgrund der Wunden des
Sündenfalls noch leichter geneigt.
Doch die Versuchungen können besiegt, die Sünden können vermieden werden,
weil uns der Herr zusammen mit den Geboten die Möglichkeit schenkt, sie zu
befolgen: "Die Augen Gottes schauen auf das Tun der Menschen, er kennt alle ihre
Taten. Keinem gebietet er zu sündigen, und die Betrüger unterstützt er nicht"
(Sir 15,19-20). Die Befolgung des Gesetzes Gottes kann in bestimmten Situationen
schwer, sehr schwer sein: niemals jedoch ist sie unmöglich. Dies ist eine
beständige Lehre der Tradition der Kirche, wie sie vom Konzil von Trient
formuliert wurde: "Niemand aber, wie sehr er auch gerechtfertigt sein mag, darf
meinen, er sei frei von der Beachtung der Gebote, niemand jenes leichtfertige
und von den Vätern unter (Androhung des) Anathema verbotene Wort benützen, die
Vorschriften Gottes seien für einen gerechtfertigten Menschen unmöglich zu
beobachten. ,Denn Gott befiehlt nichts Unmögliches, sondern wenn er befiehlt,
dann mahnt er, zu tun, was man kann, und zu erbitten, was man nicht kann', und
er hilft, daß man kann; ,seine Gebote sind nicht schwer' (1 Joh 5,3), sein ,Joch
ist sanft und (seine) Last leicht' (Mt 11,30)".162
103. Mit Hilfe der göttlichen Gnade und durch die
Mitwirkung der menschlichen Freiheit steht dem Menschen immer der geistliche
Raum der Hoffnung offen.
Im rettenden Kreuz Jesu, in der Gabe des Heiligen Geistes, in den
Sakramenten, die aus der durchbohrten Seite des Erlösers hervorgehen (vgl. Joh
19,34), findet der Glaubende die Gnade und die Kraft, das heilige Gesetz Gottes
immer, auch unter größten Schwierigkeiten, zu befolgen. Wie der hl. Andreas von
Kreta sagt, wurde das Gesetz "durch die Gnade neu belebt und, in harmonischer
und fruchtbarer Verbindung, in ihren Dienst gestellt, ohne Vermischung und
Verwirrung ihrer je besonderen Eigenschaften; und doch hat er auf göttliche
Weise das früher belastende und tyrannische Gesetz in eine leichte Last und eine
Quelle der Freiheit verwandelt." 163
Allein im Erlösungsgeheimnis Christi gründen die "konkreten" Möglichkeiten
des Menschen. "Es wäre ein schwerwiegender Irrtum, den Schluß zu ziehen..., die
von der Kirche gelehrte Norm sei an sich nur ein "Ideal", das dann, wie man
sagt, den konkreten Möglichkeiten des Menschen angepaßt, angemessen und
entsprechend abgestuft werden müsse: nach Äbwägen der verschiedenen in Frage
stehenden Güter". Aber welches sind die "konkreten Möglichkeiten des Menschen?"
Und von welchem Menschen ist die Rede? Von dem Menschen, der von der Begierde
beherrscht wird, oder von dem Menschen, der von Christus erlöst wurde?
Schließlich geht es um folgendes: um die Wirklichkeit der Erlösung durch
Christus. Christus hat uns erlöst! Das bedeutet: Er hat uns die Möglichkeit
geschenkt, die ganze Wahrheit unseres Seins zu verwirklichen; Er hat unsere
Freiheit von der Herrschaft der Begierde befreit. Und auch wenn der erlöste
Mensch noch sündigt, so ist das nicht der Unvollkommenheit der Erlösungstat
Christi anzulasten, sondern dem Willen des Menschen, sich der jener Tat
entspringenden Gnade zu entziehen. Das Gebot Gottes ist sicher den Fähigkeiten
des Menschen angemessen: Aber den Fähigkeiten des Menschen, dem der Heilige
Geist geschenkt wurde; des Menschen, der, wiewohl er in die Sünde verfiel, immer
die Vergebung erlangen und sich der Gegenwart des Geistes erfreuen kann".164
104. Hier öffnet sich dem Erbarmen Gottes mit dem sich
bekehrenden Sünder und dem Verständnis für die menschliche Schwäche der
angemessene Raum. Dieses Verständnis bedeutet niemals, den Maßstab von Gut und
Böse aufs Spiel zu setzen und zu verfälschen, um ihn an die Umstände anzupassen.
Während es menschlich ist, daß der Mensch, nachdem er gesündigt hat, seine
Schwäche erkennt und wegen seiner Schuld um Erbarmen bittet, ist hingegen die
Haltung eines Menschen, der seine Schwäche zum Kriterium der Wahrheit vom Guten
macht, um sich von allein gerechtfertigt fühlen zu können, ohne es nötig zu
haben, sich an Gott und seine Barmherzigkeit zu wenden, unannehmbar. Eine solche
Haltung verdirbt die Sittlichkeit der gesamten Gesellschaft, weil sie lehrt, an
der Objektivität des Sittengesetzes im allgemeinen könne gezweifelt und die
Absolutheit der sittlichen Verbote hinsichtlich bestimmter menschlicher
Handlungen könne geleugnet werden, was schließlich dazu führt, daß man sämtliche
Werturteile durcheinanderbringt.
105. Von allen wird große
Wachsamkeit verlangt, sich nicht von der Haltung des Pharisäers anstecken zu
lassen, die den Anspruch erhebt, das Bewußtsein von der eigenen Begrenztheit und
Sünde aufzuheben, und die heute in dem Versuch, die sittliche Norm den eigenen
Fähigkeiten und den eigenen Interessen anzupassen, und sogar in der Ablehnung
des Normbegriffes selbst besonders zum Ausdruck kommt. Umgekehrt entfacht das
Annehmen des "Mißverhältnisses" zwischen dem Gesetz und den Fähigkeiten des
Menschen - d.h. den Fähigkeiten der sittlichen Kräfte des sich selbst
überlassenen Menschen - die Sehnsucht nach der Gnade und bereitet den Boden für
ihren Empfang. "Wer wird mich aus diesem dem Tod verfallenen Leib erretten?",
fragt sich der Apostel Paulus. Und mit einem freudigen und dankbaren Bekenntnis
antwortet er: "Dank sei Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn!" (Röm
7,24-25).
Dasselbe Bewußtsein treffen wir im folgenden Gebet des hl. Ambrosius von
Mailand an: "Der Mensch ist nichts wert, wenn du ihn nicht aufsuchst. Vergiß den
Schwachen nicht, denke daran, daß du mich aus Staub geformt hast. Wie soll ich
mich aufrecht halten können, wenn du mich nicht ununterbrochen im Blick hast, um
diese Tonerde zu festigen, so daß meine Festigkeit auf deinen Blick
zurückzuführen ist? Verbirgst du dein Gesicht, bin ich verstört (Ps 104,29):
Wehe mir, wenn du mich anblickst! Du kannst bei mir nur Verderbtheiten durch
Vergehen sehen; es ist weder von Vorteil verlassen noch gesehen zu werden, denn
wenn wir gesehen werden, sind wir Grund zur Abscheu. Wir dürfen jedoch annehmen,
daß Gott jene nicht zurückweist, die er sieht, denn er macht die rein, die er
anblickt. Vor ihm ein alle Schuld versengendes Feuer (vgl. Joel 2,3)".165
Moral und Neuevangelisierung
106. Die Evangelisierung ist die stärkste und aufregendste
Herausforderung, der sich die Kirche von ihren Anfängen an zu stellen hat.
Tatsächlich entstammt diese Herausforderung nicht so sehr den gesellschaftlichen
und kulturellen Situationen, mit denen die Kirche sich im Laufe der Geschichte
auseinandergesetzt hat, als vielmehr dem Auftrag des auferstandenen Jesus
Christus, der den eigentlichen Grund für die Existenz der Kirche bestimmt: "Geht
hinaus in die ganze Welt, und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen!" (Mk
16,15).
Was wir jedoch derzeit, wenigstens bei zahlreichen Völkern, erleben, ist
eigentlich eine außerordentliche Herausforderung an die "Neu-Evangelisierung",
das heißt an die Verkündigung des immer neuen und immer Neues vermittelnden
Evangeliums, eine Evangelisierung, die neu sein muß, "neu in ihrem Eifer, neu in
ihren Methoden und neu in ihren Aussageweisen". 166
Die Entchristlichung, die auf ganzen Völkern und Gemeinschaften lastet, die
einst von Glauben und christlichem Leben erfüllt waren, zieht nicht nur den
Verlust des Glaubens oder zumindest seine Bedeutungslosigkeit für das Leben nach
sich, sondern notgedrungen auch einen Verfall oder eine Trübung des sittlichen
Empfindens: und das zum einen wegen des fehlenden Sinns für die Ursprünglichkeit
der Moral des Evangliums, zum anderen wegen der Verdunkelung fundamentaler
sittlicher Grundsätze und Werte. Heute so weit verbreitete subjektivistische,
utilitaristische und relativistische Tendenzen treten nicht einfach als
pragmatische Positionen mit Gewohnheitscharakter auf, sondern unter
theoretischem Gesichtspunkt als feste Konzeptionen, die ihre volle ku1turelle
und gesellschaftliche Legitimität beanspruchen.
107. Die Evangelisierung - und damit die
"Neuevangelisierung" - schließt auch die Verkündigung und das Anbieten einer
Moral ein. Jesus selbst hat, als er das Reich Gottes und seine rettende Liebe
verkündete, zum Glauben und zur Umkehr aufgerufen (vgl. Mk 1,15). Und mit den
anderen Aposteln spricht Petrus, als er die Auferstehung des Jesus von Nazaret
von den Toten verkündet, von einem neuen Leben, das es zu leben, von einem
"Weg", dem es zu folgen gilt, um Jünger des Auferstandenen zu sein (vgl. Apg
2,37-41; 3,17-20).
Wie im Falle der Glaubenswahrheiten, ja in noch höherem Maße, bekundet eine
Neuevangelisierung, die Grundlagen und Inhalte der christlichen Moral darlegt,
ihre Authentizität und verströmt gleichzeitig ihre ganze missionarische Kraft,
wenn sie sich durch das Geschenk nicht nur des verkündeten, sondern auch des
gelebten Wortes vollzieht. Insbesondere ist es das Leben in Heiligkeit, das in
so vielen demütigen und oft vor den Blicken der Menschen verborgenen Gliedern
des Volkes Gottes erstrahlt, was den schlichtesten und faszinierendsten Weg
darstellt, auf dem man unmittelbar die Schönheit der Wahrheit, die befreiende
Kraft der Liebe Gottes, den Wert der unbedingten Treue, selbst unter
schwierigsten Umständen, angesichts aller Forderungen des Gesetzes des Herrn
wahrzunehmen vermag. Darum hat die Kirche in ihrer weisen Moralpädagogik stets
die Glaubenden eingeladen, in den heiligen Männern und Frauen und zuallererst in
der Jungfrau und Gottesmutter, die "voll der Gnade" und "ganz heilig" ist, das
Vorbild, die Kraft und die Freude zu suchen und zu finden, um ein Leben gemäß
den Geboten Gottes und den Seligpreisungen des Evangeliums zu führen.
Das Leben der Heiligen - es ist Spiegelbild der Güte Gottes, der "a llein der
Gute ist" - stellt nicht nur ein echtes Glaubensbekenntnis und einen Impuls für
seine Mitteilung an die anderen dar, sondern auch eine Verherrlichung Gottes und
seiner unendlichen Heiligkeit. Das heiligmäßige Leben führt so zur Vollendung in
Wort und Tat des einen und dreifachen Amtes, des munus propheticum, sacerdotale
et regale, das jeder Christ bei der Wiedergeburt in der Taufe äus Wasser und
Geist" (Joh 3,5) als Geschenk empfängt. Das sittliche Leben besitzt den Wert
eines "Gottesdienstes" (Röm 12,1; vgl. Phil 3,3), der aus jener unerschöpflichen
Quelle von Heiligkeit und Verherrlichung Gottes gespeist wird, die die
Sakramente, insbesondere die Eucharistie, sind: Denn durch die Teilnahme am
Kreuzesopfer hat der Christ Gemeinschaft mit der Opferliebe Christi und wird
dazu befähigt und verpflichtet, dieselbe Liebe in allen seinen Lebenshaltungen
und Verhaltensweisen zu leben. In der sittlichen Existenz offenbart und
verwirklichtsich auch der königliche Dienst des Christen: Je mehr er mit Hilfe
der Gnade dem neuen Gesetz des Heiligen Geistes gehorcht, desto mehr wächst er
in der Freiheit, zu der er im Dienst der Wahrheit, der Liebe und der
Gerechtigkeit berufen ist.
108. Am Ursprung der neuen Evangelisierung und des neuen
sittlichen Lebens, das sie in ihren Früchten der Heiligkeit und des
missionarischen Engagements darlegt und weckt, steht der Geist Christi, Prinzip
und Kraft der Fruchtbarkeit der heiligen Mutter Kirche, wie uns Paul VI. in
Erinnerung bringt: Öhne Wirken des Heiligen Geistes wird die Evangelisierung
niemals möglich sein". 167
Dem Geist Jesu, der vom demütigen und bereiten Herzen des Glaubenden
aufgenommen wird, ist also das Erblühen und Gedeihen des sittlichen Lebens des
Christen und das Zeugnis der Heiligkeit in der großen Vielfalt der Berufungen,
der Gaben, der Verantwortlichkeiten und der Lebensbedingungen und -situationen
zu verdanken: es ist der Heilige Geist - betonte bereits Novitian und brachte
damit den authentischen Glauben der Kirche zum Ausdruck - "der den Jüngern in
Herz und Geist Festigkeit verliehen hat, der ihnen die Geheimnisse des
Evangeliums erschlossen hat, der ihnen Erleuchtung für die göttlichen Dinge
gegeben hat; von ihm haben sie Stärkung erfahren, so daß sie weder vor
Gefängnissen noch vor Ketten um des Namens des Herrn willen mehr Angst hatten;
ja sie treten auf eben diese Mächte und Leiden der Erde, bewaffnet und gestärkt
durch ihn; in sich tragen sie die Gaben, die eben dieser Geist spendet und der
Kirche, der Braut Christi, als wertvollen Schmuck weitergibt. In der Tat ist er
es, der in der Kirche Propheten erweckt, die Lehrer anleitet, die Zungen lenkt,
Zeichen und Heilungen vollbringt, wunderbare Werke hervorbringt, die
Unterscheidung der Geister ermöglicht, jede andere Geistesgabe zuteilt und
ordnet und somit durch alles und in allem die Kirche des Herrn auf vollendete
Weise zur Vollkommenheit führt".168
Im lebendigen Zusammenhang dieser Neuevangelisierung, die "den Glauben, der
in der Liebe wirksam ist" (Gal 5,6), hervorbringen und fördern soll, und im
Blick auf das Wirken des Heiligen Geistes können wir jetzt begreifen, welcher
Platz in der Kirche, die Gemeinschaft der Gläubigen ist, der Reflexion über das
sittliche Leben gebührt, wie es die Theologie in Gang bringen und entwickeln
muß, ebenso wie wir nun den Auftrag und die eigentliche Verantwortung der
Moraltheologen darlegen können.
Der Dienst der Moraltheologen
109. Zur Evangelisierung und zum Zeugnis eines
Glaubenslebens berufen ist die ganze Kirche, die am munus propheticum des Herrn
Jesus durch das Geschenk seines Geistes teilhat. Dank der ständigen Anwesenheit
des Geistes der Wahrheit in ihr (vgl. Joh 14,16-17) "kann die Gesamtheit der
Gläubigen, welche die Salbung von dem Heiligen Geist haben (vgl. 1 Joh 2,20.27),
im Glauben nicht irren. Und diese ihre besondere Eigenschaft macht sie durch den
übernatürlichen Glaubenssinn des ganzen Volkes dann kund, wenn sie ,von den
Bischöfen bis zum letzten gläubigen Laien' ihre allgemeine Übereinstimmung in
Sachen des Glaubens und der Sitten äußert".169
Um ihre prophetische Sendung auszuüben, muß die Kirche ihr Glaubensleben
ständig wiedererwecken und "neu beleben" (vgl. 2 Tim 1,6), insbesondere durch
immer tiefere Reflexion, die sich unter der Führung des Heiligen Geistes mit dem
Inhalt des Glaubens selber auseinandersetzt. Im Dienst dieser "gläubigen
Erforschung des Glaubensverständnisses" steht in besonderer Weise die "Berufung"
des Theologen in der Kirche: Ünter den durch den Geist in der Kirche entfachten
Berufungen - so lesen wir in der Instruktion Donum veritatis - zeichnet sich die
des Theologen aus, dessen Aufgabe darin besteht, in Gemeinschaft mit dem Lehramt
ein immer tieferes Verständnis des Wortes Gottes, wie es in der inspirierten und
von der lebendigen Tradition der Kirche getragenen Schrift enthalten ist, zu
gewinnen. Der Glaube strebt von seiner Natur her nach Erkenntnis, denn er
enthüllt dem Menschen die Wahrheit über seine Bestimmung und den Weg, sie zu
erreichen. Obwohl diese geoffenbarte Wahrheit all unser Reden überschreitet und
unsere Begriffe angesichts seiner letzten Endes unergründlichen Erhabenheit
(vgl. Eph 3,19) unvollkommen bleiben, so fordert sie doch unsere Vernunft,
dieses Geschenk Gottes, zum Erfassen der Wahrheit auf, in ihr Licht einzutreten
und so fähig zu werden, das Geglaubte in einem gewissen Maß auch zu verstehen.
Theologische Wissenschaft, die sich um das Verständnis des Glaubens in Antwort
auf die Stimme der sie ansprechenden Wahrheit bemüht, hilft dem Volk Gottes,
gemäß dem Auftrag des Apostels (vgl. 1 Petr 3,15) dem, der nach seiner Hoffnung
fragt, Rede und Antwort zu stehen".170
Für die Identitätsbestimmung der Theologie und folglich für die
Verwirklichung ihrer eigentlichen Funktion ist es äußerst wichtig, ihren inneren
und lebendigen Zusammenhang mit der Kirche, ihrem Geheimnis, ihrem Leben und
ihrer Sendung anzuerkennen: "Die Theologie ist kirchliche Wissenschaft, weil sie
in der Kirche wächst und über die Kirche handelt... Sie steht im Dienst der
Kirche und muß sich daher dynamisch einbezogen fühlen in die Sendung der Kirche,
besonders in ihre prophetische Funktion".171
Aufgrund ihrer Natur und ihres Dynamismus kann die authentische Theologie nur
durch eine überzeugte und verantwortliche Teilnahme und "Zugehörigkeit" zur
Kirche als "Glaubensgemeinschaft" blühen und sich entfalten, so wie dieser
Kirche und ihrem Glaubensleben das Ergebnis der Forschung und theologischen
Vertiefung zum Nutzen gereicht.
110. Was wir über die Theologie im allgemeinen gesagt
haben, kann und muß erneut für die Moraltheologie vorgetragen werden, insofern
sie begriffen wird in ihrer Eigentümlichkeit als wissenschaftliche Reflexion
über das Evangelium als Geschenk und Gebot neuen Lebens, über das Leben, das
"von der Liebe geleitet, sich an die Wahrheit hält" (vgl. Eph 4,15), über das
heiligmäßige Leben der Kirche, in welchem die Wahrheit des zu seiner Vollendung
gebrachten Guten glänzt. Nicht nur im Bereich des Glaubens, sondern auch und
untrennbar davon im Bereich der Moral greift das Lehramt der Kirche ein, dessen
Aufgabe es ist, "durch das Gewissen der Gläubigen bindende Urteile jene
Handlungen zu bezeichnen, die in sich selber mit den Forderungen des Glaubens
übereinstimmen und seine Anwendung im Leben fördern, aber auch jene Handlungen,
die aufgrund ihres inneren Schlechtseins mit diesen Forderungen unvereinbar
sind".172 Durch
die Verkündigung der Gebote Gottes und der Liebe Christi lehrt das Lehramt der
Kirche die Gläubigen auch konkrete Einzelgebote und verlangt von ihnen, sie
gewissenhaft als sittlich verpflichtend zu betrachten. Außerdem übt das Lehramt
ein wichtiges Wächteramt aus, indem es die Gläubigen vor möglichen, auch nur
implizit vorhandenen Irrtümern warnt, wenn ihr Gewissen nicht dahin gelangt, die
Richtigkeit und Wahrheit der vom Lehramt der Kirche gelehrten sittlichen Regeln
anzuerkennen.
Hinzu kommt hier die besondere Aufgabe all derer, die im Auftrag der
zuständigen Bischöfe in den Priesterseminaren und an den Theologischen
Fakultäten Moraltheologie lehren. Sie haben die schwere Pflicht, die Gläubigen
- besonders die künftigen Seelsorger - über alle Gebote und über die praktischen
Normen zu unterweisen, die die Kirche mit Autorität verkündet.173
Die Moraltheologen sind aufgerufen, unbeschadet der möglichen Grenzen
menschlicher, vom Lehramt vorgelegter Beweisführungen die Argumentation seiner
Verlautbarungen zu vertiefen, die Berechtigung seiner Vorschriften und ihren
verpflichtenden Charakter zu erläutern, indem sie deren gegenseitigen
Zusammenhang und ihre Beziehung zum Endziel des Menschen aufzeigen.174
Den Moraltheologen fällt die Aufgabe zu, die Lehre der Kirche darzulegen und
bei der Ausübung ihres Amtes das Beispiel einer loyalen, inneren und äußeren
Zustimmung zur Lehre des Lehramtes sowohl auf dem Gebiet des Dogmas wie auf dem
der Moral zu geben.175
Den Moraltheologen wird es, wenn sie ihre Kräfte zur Zusammenarbeit mit dem
hierarchischen Lehramt vereinen, ein Anliegen sein, die biblischen Grundlagen,
die ethischen Inhalte und die anthropologischen Begründungen, auf denen die von
der Kirche vorgelegte Morallehre und Sicht des Menschen aufruhen, immer klarer
herauszustellen.
111. Der Dienst, den die Moraltheologen in der heutigen
Zeit zu leisten aufgerufen sind, hat nicht nur für das Leben und die Sendung
der Kirche, sondern auch für die menschliche Gesellschaft und Kultur eine
äußerst wichtige Bedeutung. Ihnen obliegt es, in tiefer und lebendiger
Verbindung mit der biblischen Theologie und der Dogmatik in wissenschaftlicher
Reflexion "den dynamischen Aspekt zu unterstreichen, der die Antwort bestimmt,
die der Mensch in seinem Wachstumsprozeß in der Liebe, innerhalb der
Heilsgemeinschaft auf den göttlichen Anruf geben soll. Auf diese Weise wird die
Moraltheologie eine ihr innewohnende geistliche Dimension annehmen, die den
Forderungen nach voller Entfaltung der imago Dei, des Gottesbildes, das im
Menschen ist, und den Gesetzen des in der christlichen Aszetik und Mystik
beschriebenen geistlichen Prozesses entspricht".176
Sicher sehen sich die Moraltheologie und ihre Lehre heutzutage einer
besonderen Schwierigkeit gegenüber. Da die Moral der Kirche notwendigerweise
eine normative Dimension einschließt, kann sich die Moraltheologie nicht auf
ein nur im Rahmen der sogenannten Humanwissenschaften erarbeitetes Wissen
beschränken. Während sich diese mit dem Phänomen der Sittlichkeit als
historisches und soziales Faktum beschäftigen, ist hingegen die Moraltheologie,
die sich zwar der Human- und Naturwissenschaften bedienen muß, nicht den
Ergebnissen der empirisch-formalen Beobachtung oder des phänomenologischen
Verständnisses untergeordnet. Tatsächlich muß die Zuständigkeit der
Humanwissenschaften in der Moraltheologie stets an der ursprünglichen Frage
gemessen werden: Was ist gut bzw. böse? Was muß ich tun, um das ewige Leben zu
gewinnen?
112. Der Moraltheologe muß darum im Rahmen der heute
überwiegend naturwissenschaftlichen und technischen Kultur, die den Gefahren des
Relativismus, des Pragmatismus und des Positivismus ausgesetzt ist, sorgfältig
unterscheiden. Vom theologischen Standpunkt her sind die moralischen Prinzipien
nicht vom geschichtlichen Augenblick abhängig, in dem sie entdeckt werden. Die
Tatsache, daß manche Gläubige handeln, ohne die Lehren des Lehramtes zu
befolgen, oder ein Verhalten zu Unrecht als sittlich richtig ansehen, das von
ihren Hirten als dem Gesetz Gottes widersprechend erklärt worden ist, kann kein
stichhaltiges Argument darstellen, um die Wahrheit der von der Kirche gelehrten
sittlichen Normen zurückzuweisen. Die Bestätigung der sittlichen Normen fällt
nicht in die Zuständigkeit der empirisch-formalen Methoden. Ohne die Gültigkeit
solcher Methoden zu verneinen, aber auch ohne ihre eigene Perspektive auf diese
zu beschränken, betrachtet die Moraltheologie in Treue zum übernatürlichen Sinn
des Glaubens vor allem die geistliche Dimension des menschlichen Herzens und
seine Berufung zur göttlichen Liebe.
Während die Humanwissenschaften nämlich wie alle experimentellen
Wissenschaften ein empirisches und statistisches Konzept von "Normalität"
entfalten, lehrt der Glaube, daß eine solche Normalität die Spuren eines Falles
des Menschen aus der Höhe seines ursprünglichen Zustandes in sich trägt, daß sie
also von der Sünde angegriffen ist. Einzig und allein der christliche Glaube
weist dem Menschen den Weg der Rückkehr zum Änfang" (vgl. Mt 19,8), ein Weg, der
häufig sehr verschieden ist von dem der empirischen Normalität. So können die
Humanwissenschaften unbeschadet des großen Wertes der Erkenntnisse, die sie
anbieten, nicht als die entscheidenden Wegweiser für das Aufstellen sittlicher
Normen angesehen werden. Es ist das Evangelium, das die ganze Wahrheit über den
Menschen und über den sittlichen Weg enthüllt und so die Sünder erleuchtet und
ermahnt und ihnen von der Barmherzigkeit Gottes kündet, der unablässig wirkt, um
sie zu bewahren sowohl vor der Verzweiflung darüber, daß sie das göttliche
Gesetz nicht erkennen und befolgen können, als auch vor der falschen Meinung,
sich ohne Verdienst retten zu können. Es erinnert sie darüber hinaus an die
Freude der Vergebung, die allein die Kraft dazu verleiht, im sittlichen Gesetz
eine befreiende Wahrheit, eine Gnade zur Hoffnung, einen Lebensweg zu erkennen.
113. Die Sittenlehre schließt die bewußte Übernahme dieser
intellektuellen, geistlichen und pastoralen Verantwortlichkeiten ein. Deshalb
haben die Moraltheologen, die den Auftrag zur Unterweisung in der Lehre der
Kirche annehmen, die schwere Aufgabe, die Gläubigen zu diesem sittlichen
Unterscheidungsvermögen, zum Einsatz für das wahre Gute und zur vertrauensvollen
Hinwendung zur göttlichen Gnade zu erziehen.
Auch wenn Auseinandersetzungen und Meinungskonflikte im Rahmen einer
repräsentativen Demokratie normale Ausdrucksformen des öffentlichen Lebens
darstellen mögen, so kann die Sittenlehre gewiß nicht von der einfachen
Befolgung eines Entscheidungsverfahrens abhängen: Sie wird überhaupt nicht durch
die Befolgung von Regeln und Entscheidungsverfahren demokratischer Art bestimmt.
Der von kalkuliertem Protest und Polemik bestimmte, durch die
Kommunikationsmittel herbeigeführte Dissens steht im Widerspruch zur kirchlichen
Gemeinschaft und zum richtigen Verständnis der hierarchischen Verfassung des
Volkes Gottes. Im Widerstand gegen die Lehre der Hirten ist weder eine legitime
Ausdrucksform der christlichen Freiheit noch der Vielfalt der Gaben des Geistes
zu erkennen. In diesem Fall haben die Hirten die Pflicht, ihrem apostolischen
Auftrag gemäß zu handeln und zu verlangen, daß das Recht der Gläubigen, die
katholische Lehre rein und unverkürzt zu empfangen, immer geachtet wird: "Da er
nie vergessen wird, daß auch er ein Glied des Volkes Gottes ist, muß der
Theologe dieses achten und sich bemühen, ihm eine Lehre vorzutragen, die in
keiner Weise der Glaubenslehre Schaden zufügt".177
Unsere Verantwortlichkeit als Hirten
114. Die Verantwortung gegenüber dem Glauben und dem
Glaubensleben des Volkes Gottes lastet ganz besonders und wesentlich auf den
Bischöfen, woran uns das II. Vatikanische Konzil erinnert: Ünter den
hauptsächlichsten "Amtern der Bischöfe hat die Verkündigung des Evangeliums
einen hervorragenden Platz. Denn die Bischöfe sind Glaubensboten, die Christus
neue Jünger zuführen; sie sind authentische, das heißt mit der Autorität Christi
ausgerüstete Lehrer. Sie verkündigen dem ihnen anvertrauten Volk die Botschaft
zum Glauben und zur Anwendung auf das sittliche Leben und erklären sie im Licht
des Heiligen Geistes, indem sie aus dem Schatz der Offenbarung Neues und Altes
vorbringen (vgl. Mt 13,52). So lassen sie den Glauben fruchtbar werden und
halten die ihrer Herde drohenden Irrtümer wachsam fern (vgl. 2 Tim 4,1-4)".178
Es ist unsere gemeinsame Pflicht und zuvor noch unsere gemeinsame Gnade, als
Hirten und Bischöfe der Kirche die Gläubigen das zu lehren, was sie auf den Weg
des Herrn führt, so wie es einst der Herr Jesus mit dem jungen Mann des
Evangeliums gemacht hat. In der Antwort auf seine Frage: "Was muß ich Gutes tun,
um das ewige Leben zu gewinnen?" hat Jesus auf Gott, den Herrn der Schöpfung und
des Bundes, verwiesen; er hat die bereits im Alten Testament geoffenbarten
sittlichen Gebote in Erinnerung gerufen; er hat auf deren Geist und Radikalität
hingedeutet, als er ihn zur Nachfolge in Armut, Demut und Liebe aufforderte:
"Komm und folge mir nach!" Die Wahrheit dieser Lehre hat ihr Siegel am Kreuz im
Blut Christi ausgedrückt erhalten: Sie ist im Heiligen Geist zum neuen Gesetz
der Kirche und jedes Christen geworden.
Diese "Antwort" auf die Fragen der Moral wird von Jesus Christus in
besonderer Weise uns Bischöfen der Kirche anvertraut, die wir aufgerufen sind,
sie zum Gegenstand unserer Unterweisung zu machen, anvertraut in der Erfüllung
unseres munus propheticum. Zugleich muß sich unsere Verantwortung als Hirten
gegenüber der christlichen Sittenlehre auch in der Form des munus sacerdotale
erfüllen: Das geschieht, wenn wir den Gläubigen die Gaben der Gnade und
Heiligung spenden als Mittel zum Gehorsam gegenüber dem heiligen Gesetz Gottes
und wenn wir durch unser ständiges und vertrauensvolles Gebet die Gläubigen
stärken, damit sie den Anforderungen des Glaubens treu sind und dem Evangelium
gemäß leben (vgl. Kol 1,9-12). Die christliche Sittenlehre muß vor allem heute
einen der bevorzugten Bereiche unserer pastoralen Wachsamkeit, der Ausübung
unseres munus regale, bilden.
115. Es ist in der Tat das erste Mal, daß das Lehramt der
Kirche die Grundelemente dieser Lehre mit einer gewissen Ausführlichkeit darlegt
und die Erfordernisse der in komplexen und mitunter kritischen praktischen und
kulturellen Situationen absolut notwendigen pastoralen Unterscheidung aufzeigt.
Im Licht der Offenbarung und der beständigen Lehre der Kirche und
insbesondere des II. Vatikanischen Konzils habe ich kurz an die wesentlichen
Züge der Freiheit, die mit der Würde der menschlichen Person und mit der
Wahrheit ihrer Handlungen verbundenen Grundwerte in Erinnerung gerufen, um so im
Gehorsam gegenüber dem Sittengesetz eine Gnade und ein Zeichen unserer
Gotteskindschaft in dem einen Sohn (vgl. Eph 1,4-6) erkennen zu können.
Insbesondere werden mit dieser Enzyklika Bewertungen einiger gegenwärtiger
Tendenzen der Moraltheologie vorgelegt. Diese teile ich hier mit im Gehorsam
gegenüber dem Wort des Herrn, der Petrus beauftragt hat, seine Brüder zu stärken
(vgl. Lk 22,32), zur Erleuchtung und Hilfe für unsere gemeinsame Aufgabe der
Unterscheidung der Geister.
Jeder von uns weiß um die Bedeutung der Lehre, die den Kern dieser Enzyklika
darstellt und an die heute mit der Autorität des Nachfolgers Petri erinnert
wird. Jeder von uns kann den Ernst dessen spüren, worum es mit der erneuten
Bekräftigung der Universalität und Unveränderlichkeit der sittlichen Gebote und
insbesondere derjenigen, die immer und ohne Ausnahme in sich schlechte Akte
verbieten, nicht nur für die einzelnen Personen, sondern für die ganze
Gesellschaft geht.
In Anerkenntnis dieser Gebote vernehmen das Herz des Christen und unsere
pastorale Liebe den Anruf dessen, der üns zuerst geliebt hat" (1 Joh 4,19).
Gott verlangt von uns, heilig zu sein, wie er heilig ist (vgl. Lev 19,2),
vollkommen zu sein - in Christus -, wie er vollkommen ist (vgl. Mt 5,48): Die
anspruchsvolle Festigkeit des Gebotes beruht auf der unerschöpflichen
barmherzigen Liebe Gottes (vgl. Lk 6,36), und das Ziel des Gebotes ist es, uns
mit der Gnade Christi auf den Weg der Fülle des Lebens der Kinder Gottes zu
führen.
116. Wir haben als Bischöfe die Pflicht, darüber zu
wachen, daß das Wort Gottes zuverlässig gelehrt wird. Meine Mitbrüder im
Bischofsamt, es gehört zu unserem Hirtenamt, über die getreue Weitergabe dieser
Morallehre zu wachen und die passenden Maßnahmen zu ergreifen, damit die
Gläubigen vor jeder Lehre und Theorie, die ihr widersprechen, geschützt werden.
In dieser Aufgabe werden wir alle von den Theologen unterstützt; die
theologischen Meinungen bilden jedoch weder die Regel noch die Norm für unsere
Lehre. Ihre Autorität beruht, mit dem Beistand des Heiligen Geistes und in der
Gemeinschaft cum Petro et sub Petro, auf unserer Treue zu dem von den Aposteln
empfangenen katholischen Glauben. Als Bischöfe haben wir die schwerwiegende
Verpflichtung, persönlich darüber zu wachen, daß in unseren Diözesen die
"gesunde Lehre" (1 Tim 1,10) des Glaubens und der Moral gelehrt wird .
Eine besondere Verantwortung obliegt den Bischöfen im Hinblick auf die
katholischen Institutionen. Ob es sich um Organe für die Familien- oder
Sozialpastoral oder um Einrichtungen handelt, die sich dem Unterricht oder der
medizinischen Betreuung und Krankenpflege widmen, die Bischöfe können diese
Strukturen errichten und anerkennen und ihnen eine Reihe von
Verantwortlichkeiten übertragen; das entbindet sie jedoch niemals von ihren
eigenen Verpflichtungen. Sie haben gemeinsam mit dem Heiligen Stuhl die Aufgabe,
Schulen,179
Universitäten, 180
Krankenhäusern sowie anderen medizinischen und sozialen Einrichtungen, die sich
auf die Kirche berufen, die Bezeichnung "katholisch" zuzuerkennen oder, in
Fällen schwerwiegender Nichtübereinstimmung, abzuerkennen.
117. Im Herzen des Christen, in der verborgensten Mitte
des Menschen, klingt immer wieder die Frage an, die eines Tages der junge Mann
des Evangeliums an Jesus richtete: "Meister, was muß ich Gutes tun, um das ewige
Leben zu gewinnen?" (Mt 19,16). Es ist freilich notwendig, daß ein jeder diese
Frage an den "guten" Meister richtet, denn er ist der Einzige, der in jeder
Situation, unter den verschiedensten Umständen im Vollbesitz der Wahrheit zu
antworten vermag. Und wenn Christen an ihn die Frage richten, die aus ihrem
Gewissen aufsteigt, antwortet der Herr mit den Worten des Neuen Bundes, die er
seiner Kirche anvertraut hat. Wir sind nun einmal, wie der Apostel von sich
sagt, gesandt, "das Evangelium zu verkünden, aber nicht mit gewandten und klugen
Worten, damit das Kreuz Christi nicht um seine Kraft gebracht wird" (1 Kor
1,17). Darum besitzt die Antwort der Kirche auf die Frage des Menschen die
Weisheit und Macht des gekreuzigten Christus, die sich hingebende Wahrheit.
Wenn die Menschen der Kirche Gewissensfragen stellen, wenn sich in der Kirche
die Gläubigen an die Bischöfe und Hirten wenden, dann findet sich in der Antwort
der Kirche die Stimme Jesu Christi, die Stimme der Wahrheit über Gut und Böse.
In dem von der Kirche verkündeten Wort erklingt im Innersten der Menschen die
Stimme Gottes, der "allein der Gute" (Mt 19,17), der allein "die Liebe" (1 Joh
4,8.16) ist.
Dieses zugleich liebenswürdige wie auch anspruchsvolle Wort wird in der
Salbung mit dem Geist zu Licht und Leben für den Menschen. Wiederum ist es der
Apostel Paulus, der uns einlädt, Vertrauen zu haben, denn ünsere Befähigung
stammt von Gott. Er hat uns fähig gemacht, Diener des Neuen Bundes zu sein,
nicht des Buchstabens, sondern des Geistes... Der Herr aber ist der Geist, und
wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit. Wir alle spiegeln mit enthülltem
Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wider und werden so in sein eigenes Bild
verwandelt, von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, durch den Geist des Herrn" (2 Kor
3,5-6.17-18).
Schluß
Maria, Mutter der Barmherzigkeit
118. Am Ende dieser Erwägungen vertrauen wir uns selber,
die Leiden und Freuden unseres Daseins, das sittliche Leben der Gläubigen und
der Menschen guten Willens, die Forschungen der Fachleute für Ethik und
Moraltheologie Maria, der Mutter Gottes und Mutter der Barmherzigkeit, an.
Maria ist die Mutter der Barmherzigkeit, weil Jesus Christus, ihr Sohn, vom
Vater als Offenbarung der Barmherzigkeit Gottes gesandt wurde (vgl. Joh
3,16-18). Er ist nicht gekommen zu verdammen, sondern zu vergeben,
Barmherzigkeit zu üben (vgl. Mt 9,13). Und die größte Barmherzigkeit liegt
darin, daß er unter uns weilt, und ihm in dem Anruf, der an uns ergeht, zu
begegnen und, zusammen mit Petrus, ihn als den "Sohn des lebendigen Gottes" (Mt
16,16) zu bekennen. Keine Sünde des Menschen vermag die Barmherzigkeit Gottes
auszulöschen, vermag sie daran zu hindern, ihre ganze siegreiche Kraft zu
verströmen, sobald wir um sie flehen. Ja, gerade die Sünde läßt noch stärker die
Liebe des Vaters erstrahlen, der, um den Knecht loszukaufen, seinen Sohn
geopfert hat:181 Seine
Barmherzigkeit für uns ist Erlösung. Zur Vollendung gelangt diese Barmherzigkeit
im Geschenk des Geistes, der das neue Leben erzeugt und erfordert macht. So
zahlreich und groß die von der Schwachheit und Sünde des Menschen ihm
entgegengesetzten Hindernisse auch sein mögen, der Geist, der das Antlitz der
Erde erneuert (vgl. Ps 104,30), macht das Wunder der vollkommenen Erfüllung des
Guten möglich. Diese Erneuerung, die dazu befähigt, zu tun, was gut, edel, schön
ist, was Gott gefällt und seinem Willen entspricht, ist gewissermaßen das
Erblühen des Geschenkes der Barmherzigkeit, das von der Knechtschaft des Bösen
befreit und die Kraft schenkt, nicht mehr zu sündigen. Durch das Geschenk des
neuen Lebens macht uns Jesus zu Teilhabern seiner Liebe und führt uns im Geist
zum Vater.
119. Das ist die trostreiche Gewißheit des christlichen
Glaubens, der er seine tiefe Menschlichkeit und seine außerordentliche
Einfachheit verdankt. In den Diskussionen über die neuen und komplexen
moralischen Fragen kann manchmal der Anschein aufkommen, die christliche Moral
sei an sich zu schwierig, nur mühsam zu begreifen und fast unmöglich zu
praktizieren. Das stimmt nicht, denn sie besteht, um es mit der Schlichtheit des
Evangeliums zu sagen, darin, Jesus Christus zu folgen, sich ihm zu überlassen,
sich von seiner Gnade verwandeln und von seiner Barmherzigkeit erneuern zu
lassen, die uns durch das Leben in der Gemeinschaft seiner Kirche erreichen.
"Wer leben will - erinnert uns der hl. Augustinus -, der weiß, wo leben und
woher leben. Nähere dich ihr, glaube mir, schließe dich ihr an, um lebendig
gemacht zu werden. Fliehe nicht aus der Gemeinschaft ihrer Glieder".182
Das lebensnotwendige Wesen der christlichen Moral kann, mit dem Licht des
Geistes, jeder Mensch verstehen, auch der weniger gebildete, ja vor allem wer
sich ein "einfältiges Herz" (vgl. Ps 86,11) zu bewahren vermag. Andererseits
entbindet diese Einfachheit nach dem Evangelium nicht davon, sich der
Komplexität der Wirklichkeit zu stellen, sondern kann uns in ihr wahres
Verständnis einführen, weil die Nachfolge Christi nach und nach die
Wesensmerkmale der authentischen christlichen Sittlichkeit aufdecken und
zugleich die Lebenskraft zu ihrer Verwirklichung geben wird. Es ist Aufgabe des
Lehramtes der Kirche, darüber zu wachen, daß sich der Dynamismus der Nachfolge
Christi organisch entwickelt, ohne daß die sittlichen Forderungen mit allen
ihren Konsequenzen verfälscht oder getrübt werden. Wer Christus liebt, hält
seine Gebote (vgl. Joh 14,15).
120. Maria ist auch Mutter der Barmherzigkeit, weil Jesus
ihr seine Kirche und die ganze Menschheit anvertraut. Als sie zu Füßen des
Kreuzes Johannes als Sohn annimmt, als sie zusammen mit Christus den Vater für
jene um Vergebung bittet, die nicht wissen, was sie tun (vgl. Lk 23,34), erfährt
Maria in vollkommener Fügsamkeit gegenüber dem Geist die Fülle und Universalität
der Liebe Gottes, die ihr das Herz weitet und sie fähig macht, das ganze
Menschengeschlecht zu umfangen. So ist sie zur Mutter von uns allen und jedes
einzelnen von uns geworden, eine Mutter, die für uns die göttliche
Barmherzigkeit erlangt.
Maria ist leuchtendes Zeichen und faszinierendes Vorbild moralischen Lebens:
"Ihr Leben allein ist Vorbild für alle", schreibt der hl. Ambrosius,183
der sich besonders an die Jungfrauen wendet, aber letztlich in einem offenen
Horizont an alle folgendes feststellt: "Die erste brennende Sehnsucht zu lernen
verleiht der Adel des Meisters. Und wer ist edler als die Mutter Gottes, oder
glanzvoller als die, die vom Glanz selbst erwählt wurde?"184
Maria lebt und verwirklicht ihre Freiheit dadurch, daß sie sich Gott hingibt und
in sich die Hingabe Gottes empfängt. Sie hütet in ihrem jungfräulichen Schoß den
menschgewordenen Sohn Gottes bis zum Augenblick der Geburt, sie nährt ihn, sie
zieht ihn auf und begleitet ihn in jener höchsten Haltung der Freiheit, die das
vollständige Opfer des eigenen Lebens ist. Mit ihrer Selbsthingabe tritt Maria
voll in den Plan Gottes ein, der sich der Welt hingibt. Während sie die
Geschehnisse, die sie nicht immer versteht, in ihrem Herzen bewahrt und darüber
nachdenkt (vgl. Lk 2,19), wird sie zum Vorbild all derer, die das Wort Gottes
hören und es befolgen (vgl. Lk 11,28) und verdient den Namen "Sitz der
Weisheit". Diese Weisheit ist Jesus Christus selbst, das ewige Wort Gottes, das
den Willen des Vaters offenbart und vollkommen erfüllt (vgl. Hebr 10,5-10).
Maria lädt jeden Menschen ein, diese Weisheit aufzunehmen. Auch uns weist sie
wie die Diener während der Hochzeit in Kana in Galiläa an: "Was er euch sagt,
das tut!" (Joh 2,5).
Maria teilt unsere menschliche Situation, aber in völliger Transparenz für
die Gnade Gottes. Obwohl sie die Sünde nicht kannte, ist sie in der Lage, mit
jeder Schwäche mitzuleiden. Sie versteht den Sünder und liebt ihn mit
mütterlicher Liebe. Eben deshalb steht sie auf der Seite der Wahrheit und teilt
die Last der Kirche, alle Menschen beständig auf die moralischen Forderungen
hinzuweisen. Aus demselben Grund nimmt sie es nicht hin, daß der Sünder von
jemandem irregeführt wird, der ihn zu lieben vorgibt, indem er seine Sünde
rechtfertigt; denn sie weiß, daß auf diese Weise das Opfer Christi, ihres
Sohnes, um seine Kraft gebracht würde. Keine Lossprechung, die durch gefällige
Lehren, auch solche philosophischer oder theologischer Art, angeboten wird,
vermag den Menschen wahrhaft glücklich zu machen: Allein das Kreuz und die
Herrlichkeit des auferstandenen Christus vermögen seinem Gewissen Frieden und
seinem Leben Rettung zu schenken.
O Maria, Mutter der Barmherzigkeit, wache über alle, damit das Kreuz
Christi nicht um seine Kraft gebracht wird, damit der Mensch nicht
vom Weg des Guten abirrt, nicht das Bewußtsein für die Sünde verliert,
damit er wächst in der Hoffnung Gottes, "der voll Erbarmen ist" (Eph
2,4), damit er aus freiem Entschluß die guten Werke tut, die von Ihm
im voraus bereitet sind (vgl. Eph 2,10), und damit er so mit seinem
ganzen Leben "zum Lob seiner Herrlichkeit bestimmt" (Eph 1,12) sei.
Gegeben zu Rom, bei Sankt Peter, am 6. August, dem Fest der Verklärung des
Herrn des Jahres 1993, dem fünfzehnten meines Pontifikates.
Anmerkungen
1) Pastoralkonstitution
über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 22. 2) Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Dogmatische
Konstitution über die Kirche Lumen Gentium, 1. 3) Vgl. ebd.,
9. 4) II. Vatikanisches Konzil,
Pastoralkonstitution über die
Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 4. 5) Paul VI., Ansprache an die Vollversammlung der
Vereinten Nationen, (4. Oktober 1965): AAS 57 (1965), 878; Enzyklika Populorum
progressio (26. März 1967), 13: AAS 59 (1967), 263-264. 6) Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution
über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 33. 7) Dogmatische
Konstitution über die Kirche Lumen Gentium, 16. 8) Pius XII. hatte bereits diese theoretische
Lehrentwicklung erkennen lassen. Vgl. Radiobotschaft zum 50. Jahrestag von
Rerum novarum (1. Juni 1941): AAS 33 (1941), 194f. Ebenso Johannes XXIII.,
Enzyklika Mater et magistra (15. Mai 1961): AAS 53 (1961), 410-413.
9) Apost. Schreiben Spiritus Domini (1.
August 1987): AAS 79 (1987), 1374. 10) Katechismus der katholischen Kirche, Nr. 1692. 11) Apost. Konstitution Fidei depositum (11. Oktober 1992), 4.
12) Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Dogmatische
Konstitution über die Göttliche Offenbarung Dei Verbum, 10. 13) Vgl. Apostolisches Schreiben Parati semper an
die Jugendlichen der Welt anläßlich des Internationalen Jahres der Jugend (31.
März 1985), Nr. 2-8: AAS 77 (1985), 581-600. 14) Vgl. II. Vatikanisches Konzil,
Dekret
über die Priesterausbildung Optatam totius, 16. 15) Enzyklika Redemptor Hominis (4. März 1979),
13: AAS 71 (1979), 282. 16) Ebd.,
10: aaO., 274. 17) Exameron, dies
VI, sermo IX, 8, 50: CSEL 32, 241. 18) Leo der Grosse, Sermo XCII, cap. III: PL 54, 454. 19) Hl. Thomas v. Aquin, In duo praecepta
caritatis et in decem legis praecepta. Prologus: Opuscula theologica, II, n.
1129, Ed. Taurinens. (1954), 245; vgl. Summa Theologiae, I-II, q. 91, a. 2;
Katechismus der katholischen Kirche, Nr. 1955. 20) Vgl. Hl. Maximus Confessor, Quaestiones ad Thalassium, Q. 64: PG
90,723-728. 21) II. Vatikanisches
Konzil, Pastoralkonstitution
über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 24. 22) Katechismus der katholischen Kirche, Nr.
2070. 23) In Iohannis Evangelium
Tractatus, 41, 10: CCL 36, 363. 24)
Vgl. Hl. Augustinus, De Sermone Domini in Monte, I, 1, 1: CCL 35, 1-2.
25) In Psalmum CXVIII Expositio, sermo 18,
37: PL 15, 1541; vgl. Hl. Chromatius von Aquileia, Tractatus in Mathaeum, XX, I,
1-4: CCL 9/A, 291-292. 26) Vgl.
Katechismus der katholischen Kirche, Nr. 1717. 27) In lohannis Evangelium Tractatus, 41, 10: CCL 36, 363.
28) Ebd., 21, 8: CCL 36, 216. 29) Ebd., 82, 3: CCL 36, 533. 30) De spiritu et littera, 19, 34: CSEL 60, 187. 31) Confessiones, X, 29, 40: CCL 27, 176; vgl. De gratia et libero
arbitrio, XV: PL 44,899. 32) Vgl. De
spiritu et littera, 21, 36; 26, 46: CSEL 60, 189-190; 200-201. 33) Vgl. Summa Theologiae, I-II, q. 106, a. 1 c.
und ad 2. 34) In Matthaeum, hom. I,
1: PG 57, 15. 35) Vgl. Hl. Irenäus,
Adversus haereses, IV, 26, 2-5: Sch 100/2, 718-729. 36) Vgl. Hl. Justinus, Apologia, I, 66: PG 6,
427-430. 37) Vgl. 1 Petr 2,12 ff.;
vgl. Didaché, II, 2: Patres Apostolici, ed. F. X. Funk, I, 6-9; Clemens
Alexandrinus, Paedagogus, II, 10: PG 8, 355-364; Tertullian, Apologeticum, IX.
8: CSEL, 69, 24. 38) Vgl. Hl.
Ignatius von Antiochia, Ad Magnesios, VI, 1-2: Patres Apostolici, ed. F. X.
Funk, I, 234-235; Hl. Irenäus, Adversus haereses, IV, 33, 1.6.7: Sch 100/2,
802-805; 814-815; 816-819. 39) Dogmatische Konstitution über die
göttliche Offenbarung Dei Verbum, 8.
40)
Vgl. ebd., 8. 41) Ebd.,
10. 42) Codex des kanonischen
Rechtes, can. 747, 2. 43) II. Vat.
Konzil, Dogmatische
Konstitution über die göttlichen Offenbarung Dei Verbum, 7. 44) II. Vat. Konzil, Pastoralkonstitution
über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 22. 45) II. Vat. Konzil, Dekret
über die Priesterausbildung Optatam totius, 16. 46) II. Vat. Konzil, Pastoralkonstitution
über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 62. 47) Ebd.
48) II. Vat. Konzil, Dogmatische
Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, 10. 49) Vgl. I. Vat. Konzil, Dogmatische Konstitution
über den katholischen Glauben Dei Filius, cap. 4: DS 3018. 50) II. Vat. Konzil, Erklärung über das Verhältnis der
Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Nostra aetate, 1. 51) Vgl. II. Vat. Konzil, Pastoralkonstitution
über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 43-44. 52) II. Vat. Konzil, Erklärung
über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae, 1, mit Verweis auf Johannes
XXIII., Enzyklika Pacem in terris (11. April 1963): AAS 55 (1963), 279; ebd.,
265, und auf Pius XII., Radiobotschaft (24. Dezember 1944): AAS 37 (1945),
14. 53) Erklärung
über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae, 1. 54) Vgl. Enzyklika Redemptor Hominis (4. März
1979), 17: AAS 71 (1979), 295-300; Ansprache an das 5. Internationale
Juristenkolloquium (10. März 1984), 4: Insegnamenti VII, 1 (1984), 656;
Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion über die christliche Freiheit
und die Befreiung Libertatis conscientia (22. März 1986), 19: AAS 79 (1987),
561. 55) Vgl. II. Vat. Konzil, Pastoralkonstitution über die
Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 11. 56) Ebd.,
17.
57)
Ebd.
58) Vgl. II. Vat. Konzil, Erklärung
über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae, 2; vgl. auch Gregor XVI.,
Enzyklika Mirari vos arbitramur (15. August 1832): Acta Gregorii Papae XVI, I,
169-174; Pius IX., Enzyklika Quanta cura (8. Dezember 1864): Pii IX P.M. Acta,
I, 3, 687-700; Leone XIII., Enzyklika Libertas Praestantissimum (20. Juni 1888):
Leonis XIII P.M. Acta, VIII, Romae 1889, 212-246. 59) A Letter Addressed to His Grace the Duke of
Norfolk: Certain Difficulties Felt by Angli-cans in Catholic Teaching (Uniform
Edition: Longman, Green and Company, London, 1868-1881), Bd. 2, S. 250.
60) Vgl. Pastoralkonstitution
über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 40 und
43.
61) Vgl. Hl. Thomas v. Aquin Summa
Theologiae, I-II, q. 71, a. 6; siehe auch ad 5um. 62) Vgl. Pius XII., Enzyklika Humani generis (12.
August 1950): AAS 42 (1950), 561-562. 63)
Konzil von Trient, Sess. VI, Dekret über die Rechtfertigung Cum hoc tempore,
can. 19-21: DS 1569-1571. 64) Pastoralkonstitution über die
Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 17. 65) Gregor von Nyssa, De hominis opificio, c. 4:
PG 44, 135-136. 66) Pastoralkonstitution
über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 36. 67) Ebd.
68) Ebd.
69) Vgl. Hl. Thomas von Aquin, Summa
Theologiae, I-II, q. 93, a. 3, ad 2um, zitiert von Johannes XXIII., Enzyklika
Pacem in terris (11. April 1963): AAS 55 (1963), 271. 70) II. Vat. Konzil, Pastoralkonstitution
über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 41. 71) Hl. Thomas von Aquin, In duo praecepta
caritatis et in decem legis praecepta. Prologus: Opuscula theologica, II, n.
1129, Ed. Taurinens. (1954), 245. 72) Vgl. Ansprache an eine Gruppe von Bischöfen aus den Vereinigten
Staaten von Amerika anläßlich ihres äd limina" Besuches, (15. Okt. 1988), 6:
Insegnamenti, XI, 3 (1988), 1228. 73) Vgl. II. Vat. Konzil, Pastoralkonstitution
über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 47. 74) Hl. Augustinus, Enarratio in Psalmum LXII, 16:
CCL 39, 804. 75) Pastoralkonstitution
über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 17. 76) Summa Theologiae, I-II, q. 91, a. 2.
77) Vgl. Katechismus der katholischen
Kirche, Nr. 1955. 78) Erklärung
über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae, 3. 79) Contra Faustum, Buch 22, Kap. 27: PL 42,
418. 80) Summa Theologiae, I-II, q.
93, a. 1. 81) Vgl. ebd., I-II, 90.
4, ad 1um. 82) Ebd., I-II, q. 91, a.
2. 83) Enzyklika Libertas
praestantissimum (20. Juni 1888): Leonis XIII P. M. Acta, VIII, Romae 1889,
219. 84) In Epistulam ad Romanos, c.
VIII, lect. 1. 85) Vgl. Sess. VI,
Dekr. über die Rechtfertigung Cum hoc tempore, cap. 1: DS 1521. 86) Konzil von Vienne, Konstitution Fidei
catholicae: DS 902; Laterankonzil, Bulle Apostolici regiminis: DS 1440.
87) II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution
über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 14. 88) Vgl. Sess. VI, Dekret über die Rechtfertigung
Cum hoc tempore, cap. 15: DS 1544. Das nachsynodale Apostolische Schreiben über
Versöhnung und Buße in der Sendung der Kirche heute zitiert andere Stellen aus
dem Alten und Neuen Testament, die manche an den Leib gebundenen
Verhaltensweisen als Todsünden ausweisen: vgl.
Reconciliatio
et pænitentia (2.
Dez. 1984), 17: AAS 77 (1985), 218-223. 89)
II. Vat. Konzil, Pastoralkonstitution über die
Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 15. 90) Kongregation für die Glaubenslehre,
Instruktion über die Achtung vor dem beginnenden Leben und der Würde der
Fortpflanzung Donum vitae (22. Februar 1987), Einf. 3: AAS 80 (1988), 74; vgl.
Paul VI, Enzyklika Humanae vitae (25. Juli 1968), 10: AAS 60 (1968),
487-488. 91) Johannes Paul II.,
Apostolisches Schreiben Familiaris consortio (22. Nov. 1981), 11: AAS 74 (1982),
92. 92) De Trinitate, XIV, 15, 21:
CCL 50/A, 451. 93) Vgl. Hl. Thomas
von Aquin, Summa Theologiae, I-II, q. 94, a. 2. 94) Vgl. II. Vat. Konzil,
Pastoralkonstitution
über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 10; vgl. Hl.
Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung Persona humana (29. Dezember
1975), 4: AAS 68 (1976), 80: "Doch in Wirklichkeit bringen die göttliche
Offenbarung und auch, in der ihr eigenen Ordnung, die Weisheit der natürlichen
Vernunft, indem sie die echten Bedürfnisse des Menschengeschlechtes berühren,
zugleich notwendigerweise die unveränderlichen Gesetze ans Licht, die in den
konstitutiven Elementen der menschlichen Natur eingepflanzt sind und die als die
gleichen in allen Lebewesen, die vernunftbegabt sind, zum Vorschein
kommen". 95) II. Vat. Konzil, Pastoralkonstitution über die
Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 29. 96) Vgl. ebd.,
16. 97) Ebd.,
10. 98) Vgl. Hl. Thomas von
Aquin, Summa Theologiae I-II, q. 108, a. 1. Der hl. Thomas gründet den nicht
bloß formalen, sondern inhaltlich bestimmten Charakter der sittlichen Normen
auch im Bereich des Neuen Gesetzes darauf, daß das Wort die menschliche Natur
angenommen hat. 99) Hl. Vinzenz von
Lerin(um), Commonitorium primum, c. 23: PL 50, 668. 100) Die Entwicklung der Sittenlehre der Kirche
ist jener der Glaubenslehre ähnlich: vgl. I. Vat. Konzil, Dogmatische
Konstitution über den katholischen Glauben Dei Filius, cap. 4: DS 3020 und can.
4: DS 3024. Auch für die Sittenlehre gelten die Worte, die Johannes XXIII. bei
der Eröffnung des II. Vatikanischen Konzils (11. Oktober 1962) gesprochen hat:
"Diese zuverlässige und unwandelbare Lehre (= die christliche Lehre in ihrer
ganzen Fülle), die treu zu beachten ist, muß vertieft und so dargeboten werden,
daß sie den Erfordernissen unserer Zeit entspricht. In der Tat ist das
Glaubensgut (depositum fidei), das heißt, die in unserer ehrwürdigen Lehre
enthaltenen Wahrheiten, eine Sache, eine andere aber ist die Form, in der diese
Wahrheiten ausgesagt werden, wobei sie allerdings denselben Sinn und dieselbe
Bedeutung behalten sollen": AAS 54 (1962), 792; vgl. "L'Osservatore Romano", 12.
Oktober 1962, 2. 101) Pastoralkonstitution
über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 16. 102)
Ebd.
103) In II Librum Sentent., dist. 39, a.
1, q. 3, concl.: Ed. Ad Claras Aquas, II, 907 b. 104) Ansprache (Generalaudienz, 17. August 1983),
2: Insegnamenti, VI, 2 (1983), 256. 105) Kongregation des Hl. Offiziums, Instruktion über die
"Situationsethik" Contra doctrinam (2. Februar 1956): AAS 48 (1956), 144.
106) Enzyklika Dominum et vivificantem
(18. Mai 1986), 43: AAS 78 (1986), 859; vgl. II. Vat. Konzil, Pastoralkonstitution
über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 16; Erklärung
über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae, 3. 107) Pastoralkonstitution
über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 16. 108) Vgl. Hl. Thomas von Aquin, De Veritate, q.
17, a. 4. 109) II. Vat. Konzil, Pastoralkonstitution über die
Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 16. 110) Vgl. Hl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae,
II-II, q. 45, a. 2.
111) II. Vat.
konzil, Erklärung über die
Religionsfreiheit Dignitatis humanae, 14. 112) II. Vat. Konzil, Dogmatische Konstitution über die
göttliche Offenbarung Dei Verbum, 5; vgl. I. Vat. Konzil, Dogmatische
Konstitution über den katholischen Glauben Dei Filius, cap. 3: DS 3008
113) II. Vat. Konzil, Dogmatische
Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, 5; vgl. Hl.
Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung über Fragen der Sexualethik
Persona humana (29. Dezember 1975), 10: AAS 68 (1976), 88-90. 114) Vgl. Nachsynodales Apostolisches Schreiben
Reconciliatio
et pænitentia (2. Dez. 1984), 17: AAS 77 (1985) 218-223.
115) Sess. VI, Dekret über die
Rechtfertigung Cum hoc tempore, cap. 15: DS 1544; can. 19: DS 1569.
116) Nachsynodales Apostolisches Schreiben
Reconciliatio
et pænitentia (2. Dezember 1984), 17: AAS 77 (1985), 221.
117) Ebd.: aaO., 223. 118) Ebd.: aaO., 222. 119) Vgl. II. Vat. Konzil, Pastoralkonstitution
über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 17. 120) Vgl. Hl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae,
I-II, q. 1, a. 3: "Idem sunt actus morales et actus humani". 121) Gregor von Nyssa, De vita Moysis, II, 2-3: PG 44, 327-328.
122) Vgl. Hl. Thomas von Aquin, Summa
Theologiae, II-II, q. 148, a. 3. 123) Das II. Vat. Konzil erklärt in der Pastoralkonstitution über die
Kirche in der Welt von heute: "Das gilt nicht nur für die Christgläubigen,
sondern für alle Menschen guten Willens, in deren Herzen die Gnade unsichtbar
wirkt. Da nämlich Christus für alle gestorben ist und da es in Wahrheit nur eine
letzte Berufung des Menschen gibt, die göttliche, müssen wir festhalten, daß der
Heilige Geist allen die Möglichkeit anbietet, diesem österlichen Geheimnis in
einer Gott bekannten Weise verbunden zu sein": Gaudium
et spes, 22. 124) Tractatus ad
Tiberium Diaconum sociosque, II. Responsiones ad Tiberium Diaconum sociosque:
Hl. Kyrillos von Alexandrien, In D. Johannis Evangelium, vol. III, ed. Philip
Edward Pusey, Bruxelles, Culture et Civilisation (1965), 590. 125) Vgl. Konzil von Trient, Sess. VI. Dekret
über die Rechtfertigung Cum hoc tempore, can. 19: DS 1569. Man vergleiche auch:
Clemens XI., Konstitution Unigenitus Dei Filius (8. September 1713) gegen die
Irrtümer von Pascasio Quesnel, Nr. 53-56: DS 2453-2456. 126) Vgl. Summa Theologiae, I-II, q. 18, a.
6. 127) Katechismus der
katholischen Kirche, Nr. 1761. 128)
In duo praecepta caritatis et in decem legis praecepta. De dilectione Dei:
Opuscula theologica, II, n. 1168, Ed. Taurinens. (1954), 250. 129) Hl. Alfons Maria von Liguori, Pratica di
amar Gesu Cristo, VII, 3. 130) Vgl.
Summa Theologiae, I-II, q. 100, a. 1. 131)
Nachsynodales Apostol. Schreiben
Reconciliatio
et pænitentia (2. Dezember
1984), 17: AAS 77 (1985), 221; vgl. Paul VI., Ansprache an die Mitglieder der
Kongregation vomHeiligsten Erlöser (September 1967): AAS 59 (l967), 962: "Man
muß vermeiden, die Gläubigen zu verleiten, anders darüber zu denken, so als
wären nach dem Konzil heute einige Verhaltensweisen erlaubt, die die Kirche
früher für in sich schlecht erklärt hatte. Wer sieht nicht, daß daraus ein
bedauerlicher sittlicher Relativismus entstehen würde, der leicht das ganze Erbe
der Lehre der Kirche in Frage stellen könnte?" 132) Pastoralkonstitution
über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 27. 133) Enzyklika Humanae vitae (25. Juli 1968), 14:
AAS 60 (l968), 490-491. 134) Contra
mendacium, VII, 18: PL 40, 528; vgl. Hl. Thomas von Aquin, Quaestiones
quodlibetales, IX, q. 7, a. 2; Katechismus der katholischen Kirche, Nr.
1753-1755. 135) II. Vat. Konzil, Erklärung über die
Religionsfreiheit Dignitatis humanae, 7. 136) Ansprache an die Teilnehmer am Internationalen Kongreß für
Moraltheologie (10. April 1986), 1: Insegnamenti IX, 1 (1986), 970.
137) Ebd., 2: aaO., 970-971. 138) Vgl. II. Vat. Konzil, Pastoralkonstitution
über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 24. 139) Vgl. Enzyklika Redemptor Hominis (4. März
1979), 12: AAS 71 (1979), 280-281. 140) Enarratio in Psalmum XCIX, 7 CCL 39, 1397. 141) Vgl. II. Vat. Konzil, Dogmatische
Konstitution über die Kirche Lumen Gentium, 36; vgl. Enzyklika Redemptor
Hominis (4. März 1979), 21: AAS 71 (1979), 316-317. 142) Tagesgebet am Gedenktag der Enthauptung
Johannes des Täufers. 143) Hl.
Beda Venerabilis, Homeliarum Evangelii Libri, II, 23; CCL 122, 556-557.
144) Vgl. II. Vat. Konzil, Pastoralkonstitution
über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 27. 145) Ad Romanos, VI, 2-3: Patres Apostolici,
hrsg. F.X. Funk, I, 260-261. 146)
Moralia in Job, VII, 21, 24: PL 75, 778: "huius mundi aspera pro aeternis
praemiis amare". 147) "Summum crede
nefas animam praeferre pudori et propter vitam vivendi perdere causas!":
Juvenal, Satirae, VIII, 83-84. 148)
Apologia II, 8: PG 6, 457-458. 149)
Apostolisches Schreiben Familiaris consortio (22. November 1981), 33: AAS 74
(1982), 120. 150) Vgl. ebd., 34:
aaO., 123-125. 151) Nachsynodales
Apostolisches Schreiben Reconciliatio et paenitentia (2. Dezember 1984), 34: AAS
77 (1985), 272. 152) Enzyklika
Humanae vitae (25. Juli 1968), 29: AAS 60 (1968), 501. 153) Vgl. II. Vat. Konzil, Pastoralkonstitution
über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 25. 154) Vgl. Enzyklika Centesimus annus (1. Mai
1991), 24: AAS 83 (1991), 821-822. 155) Ebd., 44: aaO., 848-849. Vgl. Leo XIII., Enzyklika Libertas
praestantissimum (20. Juni 1888): Leonis XIII P.M. Acta, VIII, Romae 1889,
224-226. 156) Enzyklika Sollicitudo
rei socialis (30. Dezember 1987), 41: AAS 80 (1988), 571. 157) Katechismus der katholischen Kirche, Nr. 2407. 158) Vgl. ebd., Nr. 2408-2413. 159) Ebd., Nr. 2414. 160) Vgl. Nachsynodales Apostolisches Schreiben
Christifideles laici (30. Dezember 1988), 42: AAS 81 (1989), 472-476.
161) Enzyklika Centesimus annus (1. Mai
1991), 46: AAS 83 (1991), 850. 162)
Konzil von Trient, Sess. VI, Dekret über die Rechtfertigung Cum hoc tempore,
cap. 11: DS 1536; vgl. can. 18: DS 1568. Der bekannte Text des hl. Augustinus,
den das Konzil im erwähnten Abschnitt zitiert, stammt aus De natura et gratia,
43, 50 (CSEL 60, 270). 163) Oratio
I: PG 97, 805-806. 164) Ansprache
an die Teilnehmer an einem Kurs über verantwortliche Elternschaft (1. März
1984), 4: Insegnamenti VII, 1 (1984), 583. 165) De interpellatione David, IV, 6, 22: CSEL 32/2, 283-284.
166) Ansprache an die Bischöfe des CELAM
(9. März 1983), III: Insegnamenti, VI, 1 (1983), 698. 167) Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi
(8. Dezember 1975), 75: AAS 68 (1976), 64. 168) De Trinitate, XXIX, 9-10: CCL 4, 70. 169) II. Vat. Konzil, Dogmat.
Konstitution über die Kirche Lumen Gentium, 12. 170) Kongregation für die Glaubenslehre,
Instruktion über die kirchliche Berufung des Theologen Donum veritatis (24. Mai
1990), 6: AAS 82 (1990), 1552. 171)
Ansprache an die Professoren und Studenten der Päpstlichen Universität
Gregoriana (15. Dezember 1979), 6: Insegnamenti II, 2 (1979), 142. 172) Kongregation für die Glaubenslehre,
Instruktion über die kirchliche Berufung des Theologen Donum veritatis (24. Mai
1990), 16: AAS 82 (1990), 1557. 173) Vgl. C.I.C., can. 252, 1; 659, 3. 174) Vgl. I. Vat. Konzil, Dogmat. Konstitution
über den katholischen Glauben Dei Filius, cap. 4: DS 3016. 175) Vgl. Paul VI., Enzyklika Humanae vitae (25. Juli 1968), 28: AAS
60 (1968), 501. 176) Hl.
Kongregation für das Katholische Erziehungswesen, La formazione teologica dei
futuri sacerdoti (22. Februar 1976), Nr. 100. Siehe die Nr. 95-101, die die
Perspektiven und Bedingungen für eine fruchtbare Arbeit zur
theologisch-moralischen Erneuerung darlegen. 177) Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion über die
kirchliche Berufung des Theologen Donum veritatis (24. Mai 1990), 1: AAS 82
(1990), 1554; vgl. besonders Nr. 32-39, die dem Problem des Dissenses gewidmet
sind: Ebd., aaO., 1562-1568. 178)
Dogmatische Konstitution über
die Kirche Lumen Gentium, 25. 179) Vgl. C.I.C., can. 803, 3. 180) Vgl. C.I.C, can. 808. 181)
Ö inaestimabilis dilectio caritatis: ut servum redimeres, Filium tradidisti":
Missale Romanum, In Resurrectione Domini, Praeconium paschale. 182) In Iohannis Evangelium Tractatus, 26, 13:
CCL, 36, 266. 183) De Virginibus,
lib. II, cap. 15: PL 16, 222. 184)
Ebd., lib. II, cap. 7: PL 16, 220.
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